Feindbilder, Denkfaulheit oder schlampige Recherche? – Zwei Artikel in der FAZ über das Grundeinkommen

Mit „Lebenslage, Lebensstil“ antwortet Frank Lübberding auf den Beitrag von  Rainer Meyer „Diese verflixten tausend Euros“ – ebenfalls erschienen in der FAZ. Aufhänger ist die digitale Bohème, die von beiden Autoren so dargestellt wird, als sei sie ein maßgeblicher Protagonist des Grundeinkommens. Weil Sascha Lobo und andere aus dieser Szene sich zum Grundeinkommen schon geäußert haben, sind sie doch keineswegs ihre Protagonisten. Schon gar nicht bildet die digitale Bohème die Breite der Befürworter ab. Wie ein erfahrener Journalist, der Lübberding ist, so nachlässig recherchiert, erstaunt (siehe auch hier). Vielleicht ging es aber auch nur darum, Meyers Ausführungen nicht so stehen zu lassen. Ebenso erstaunlich ist, wie wenig beide Autoren den Vorschlag eines BGE durchdrungen haben.

Lübberding schließt seinen Beitrag mit folgender Bemerkung:

„…Die Idee des Grundeinkommens ist dabei der politische Reflex einer Generation, die älter wird, häufig kinderlos geblieben ist und nur geringe Ansprüche aus den Sicherungssystemen erworben hat. Die Boheme hat heute das Bedürfnis nach Sicherheit, und das war schon immer der Motor für sozialpolitische Reformen. Bei den Piraten finden sie dafür eine politische Heimat…“

Die Piraten haben ebenso eine Diskussion nur aufgegriffen, die schon Jahre zuvor einsetzte.

„…Allerdings hat dieser Anspruch einen Schönheitsfehler: Kein Sozialstaat reagiert auf Lebensstile; es gibt keinen sozialpolitischen Anspruch, als Künstler zu leben. Die Risiken dieser Lebensform werden auch in Zukunft in der Sphäre der bürgerlichen Autonomie bleiben…“

Nun, das ist eine Frage des politischen Willens und nicht in Stein gemeißelt.

„Die Hoffnung auf eine Lebensstil-Sicherung durch den Sozialstaat wird genauso scheitern wie die damaligen Erwartungen an die Risikobereitschaft von Finanzinvestoren. Wie will man auch dem Paketzusteller, der nicht Wallraff heißt, diesen Anspruch erklären?“

Ganz einfach, indem man auf die Möglichkeiten hinweist, die ein BGE schüfe. Die Diskussion hat das indes schon vielfach getan, das mag Lübberding entgangen sein.

„…Dieser hat heute ein anderes Problem: Er wird auf dem deregulierten Arbeitsmarkt als prekär Beschäftigter zu einer Art Künstlerexistenz gezwungen, mit der gleichen Unsicherheit und Angst wie in der digitalen Boheme, aber ohne Möglichkeit zur Selbstbestimmung…“

Ja, und, was folgt nun daraus? Wie kann der Paketzusteller – wie können alle – mehr Selbstbestimmungsmöglichkeiten erhalten?

„…An dieser Lebenslage von Millionen Menschen und Familien gilt es etwas zu ändern. Das bedingungslose Grundeinkommen hilft dem Paketzusteller nicht weiter. Er braucht faire Arbeitsbedingungen. Insofern wird es Zeit, dass sich die Künstler der digitalen Boheme mit etwas anderem beschäftigen als nur mit sich selbst.“

Frappierend, wie wenig Lübberding offenbar vom BGE verstanden hat. Würde es etwa nicht gerade auch die Position des Paketzustellers verbessern, der auf sein Erwerbseinkommen dann nicht mehr angewiesen wäre und ganz anders verhandeln könnte? Auch widerspricht sich der Autor, wenn er auf der einen Seite sagt, dass Risiken in der Sphäre der bürgerlichen Autonomie verbleiben, auf der anderen jedoch „faire Arbeitsbedingungen“ fordert. Wie kann denn ein Individuum über diese verhandeln, wenn es zugleich von Erwerbstätigkeit abhängig ist? Will Lübberding diese Aufgabe vielleicht an die Gewerkschaften delegieren, die genau dies in den letzen fünfzehn Jahren nicht vermochten, bessere? Selbst, wenn das gelänge, würde es den Vorrang von Erwerbstätigkeit aufrechterhalten und gerade nicht die Selbstbestimmungsmöglichkeiten darüber hinaus erweitern. Beim BGE geht es nicht um die Bohème, auch nicht um die Digitale, es geht um uns Staatsbürger, die wir das Gemeinwesen in allen Konsequenzen tragen und auch tragen müssen.

Sascha Liebermann