„Vierzig Stunden in der Kita“ – wie wollen wir leben?

Der Artikel war in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung abgedruckt. Nimmt man ihn so, wie er ist, und geht davon aus, dass alles, was berichtet wird, stimmt, dann kann er einen sprachlos machen. Eine Kita in Schwerin bietet 24-Stunden-Betreuung an. Sie richtet sich an Eltern, die beide berufstätig sind und besondere Arbeitsbedingungen haben. An einer Stelle im Artikel heißt es: „Die Bundesagentur für Arbeit spricht mit Blick auf die unflexiblen Öffnungszeiten der Kindertagesstätten von einem ‚grundlegenden Problem‘. „Stellen Sie sich mal vor, eine Verkäuferin bei Karstadt eröffnet ihrem Arbeitgeber, sie könne nur von Montag bis Freitag zwischen 8 und 15 Uhr arbeiten“, sagt eine Sprecherin. „Dann kriegt sie zu hören: Unsere Stoßzeiten sind aber am Samstag und nach Feierabend.“ Der Bäckereifachverkäuferin, die um 5 Uhr morgens ihre Backlinge geliefert bekomme, gehe es nicht anders.“

Wie hier die Problemlage geschildert wird, lässt allzu deutlich werden, wie sehr es um Prioritäten geht. Damit sind sowohl individuelle wie auch gemeinschaftliche gemeint. Wollen wir als Gemeinwesen Arbeitszeiten über das Wohl der Familie stellen? Dann ist der Ausbau zur 24-Stunden-Betreuung konsequent. Abseits solch extremer Entwicklungen nehmen Betreuungszeiten in Einrichtungen ohnehin zu, weil Eltern früh erwerbstätig sein wollen – teils aus Sorge, teils aus Not, teils, weil sie gebraucht werden möchten. Letzteres klingt gerade dann absurd, wenn kleine Kinder ihre Eltern zuhause um so mehr brauchen. Während diese Eltern als Erwerbstätige ersetzbar, austauschbar sind, sind sie es zuhause nicht. Mitarbeiter eines Unternehmens wird jemand, weil er eine Aufgabe erfüllt, nicht aber, weil er geliebt wird. Was die Bedeutung des Einzelnen im Berufsleben betrifft, machen sich viele Illusionen. Zugleich ist es allerdings die normativ herausragende Stellung, die Erwerbstätigkeit heute zukommt, die viele so früh womöglich wieder in das Erwerbsleben zurückstreben lässt. Anerkennung findet eben vor allem das Engagement im Erwerbsleben, nicht aber in der Familie. Trotz alle dem aber kann der Einzelne aus seiner Verantwortung für Alternativen nicht entlassen werden. Manches Mal sind nur kleine Veränderungen nötig, um die Familiensituation zu verbessern. Manchmal reicht Verzicht oder auch Einschränkung, um mehr Zeit für die Familie zu gewinnen – sofern es gewollt ist.

An einer anderen Stelle heißt es: „Die meisten Krankenschwestern bekommen nur einen Job, wenn sie bereit sind, Schicht zu arbeiten. Eine normale Kita geht da nicht.“ Das Hin- und Hergerissensein mancher Eltern, die im Artikel zitiert werden, ist allzu deutlich, z.B. hier: „Was die Arbeit angeht, bezeichnet Heins die Kita als „die Lösung all meiner Probleme“. Die Einrichtung ermögliche es ihr, bis zu vier Tage am Stück Seminare zu geben. Persönlich aber setze ihr die Situation zu: „Manchmal liege ich weinend im Hotelzimmer und denke an meinen Sohn.“

Die Frage, was ihr wichtiger ist, muss die Dame selbst beantworten. Wenn ihr die Situation aber zusetzt, wäre es an der Zeit, sie zu ändern. Es ist immer leicht zu sagen, das geht doch nicht, bei genauerer Betrachtung aber zeigt sich durchaus, dass das Nicht-Gehen auch mit einem Nicht-Wollen verbunden sein kann. Das ist legitim, sollte dann aber offen eingestanden werden.

Eine weitere Passage sei zitiert: „Eine andere Erzieherin sieht das kritischer: „Wir sind nur familienergänzend, kein Familienersatz. Das vergessen die Eltern und ihre Arbeitgeber manchmal.“

Auch wenn diese Aussage der Sache nach zutrifft, durch die umfangreichen Betreuungszeiten hingegen wird niemand ernsthaft behaupten wollen, dass auf dieser Basis noch ein Familienleben möglich ist. Um eine Beziehung zu den eigenen Kindern zu erlangen und zu erhalten, braucht es Zeit, ungeplante Zeit mit offenem Ausgang. Wie soll dies möglich sein, selbst wenn eine Betreuung werktags ’nur‘ von 8 bis 16 Uhr dauert?

Zur Veranschaulichung der Degradierung von Familie, die zum Alltag gehört, sei auf diese Zeichnung noch einmal hingewiesen:

 Sascha Liebermann


Frühere Kommentare von Sascha Liebermann zu verwandten Themen: Familie – hier, hier und hier. Ein Einspruch gegen diese Situation in der FAZ im alten Jahr, siehe „Markt und Familie“. Gerade zur schwierigen Arbeitsmarktlage in manchen Regionen sei auch dieser Beitrag
„Strukturschwache Regionen und das Bedingungslose Grundeinkommen“ in Erinnerung gerufen.