Wie etwas loswerden, das man nicht haben will? Jürgen Borchert über das Bedingungslose Grundeinkommen

Im vergangenen Jahr ist Jürgen Borcherts Buch „Sozialstaatsdämmerung“ erschienen. Der Verfasser ist Vorsitzender Richter am Hessischen Landessozialgericht und hat sich wiederholt kritisch zur Verfasstheit des deutschen Sozialstaats geäußert. In Kapitel 9 (S.213-226) seines Buches widmet er sich dem Bedingungslosen Grundeinkommen. Seine Ausführungen stellen, das kann ohne Übertreibung gesagt werden, eine Abrechnung dar, eine, die viele Klischees bedient, sich nicht auf die differenzierte Diskussion einlässt – all das aber mit großem Selbstbewusstsein. Im gesamten Kapitel wird nicht eine Veröffentlichung aus der jüngeren oder auch älteren deutschen Grundeinkommensdiskussion zitiert. Pauschal wird über Modelle und Konzepte gesprochen. Verwiesen wird an den Stellen, die dem Verfasser gerade recht sind ,auf Autoren wie Karl Polanyi und Erich Fromm. In Rezensionen zum, Buch, die ich auf die Schnelle finden konnte, wird auf das BGE-Kapitel gar nicht eingegangen, z.B. bei Spiegelfechter und auch bei der taz. Spiegelfechter hat zum BGE allerdings ohnehin eine festgefügte Meinung.

Wie geht Borchert nun vor, worauf stützt er seine Abrechnung? Ich werde nachfolgend die Passagen besprechen, in denen er vermeintliche Belege anführt und aufzeigen, wie er mit diesen verfährt. Fettgedruckt sind nachfolgend die Schlagworte, die auf die Abschnitte verweisen.

Huebert Pierce Long

Schon der erste Hinweis ist irreführend und bezeichnend. Der amerikanische Senator Huebert Pierce Long, auf den sich Borchert bezieht, schlug in den 1920er Jahren nie ein BGE vor, soweit die verfügbaren Quellen dazu Auskunft geben. Vielmehr sah er vor, dass jedem bezugsberechtigten Amerikaner ein Mindesteinkommen zustehen sollte, allerdings mittelbar durch ein Mindest-Familieneinkommen, nicht als Individualeinkommen: „…to every worthy and deserving american family…“. So steht es in seiner Schrift „Share Our Wealth“ (S. 7 und 14). Was hat das mit einem BGE zu tun? Nichts. Schon dieser Hinweis Borcherts (S. 214) bezeugt, dass er sich mit der Sache nicht befasst hat.

Speenhamland

Die Speenhamland-Gesetzgebung im England des frühen 19. Jahrhunderts wird häufig als Beleg dafür bemüht, wohin es führen könne, wenn die Armen durch ein Mindesteinkommen unterstützt werden. Doch, war das durch die Gesetzgebung gegeben? Wer mit solchem Aplomb auftritt, wie Borchert es in seinem Buch tut, sollte den Forschungsstand zur Kenntnis genommen haben. Selbst ein schneller Blick bei Wikipedia (deutsch, englisch) hätte ihn zur Vorsicht mahnen müssen. Für seine Einschätzung verweist Borchert auf die Ausführungen Karl Polanyis in „The Great Transformation“ (1944). Dieser kritisierte zwar die bisherige Rezeption „Speenhamlands“, verließ sich aber gleichermaßen wie andere auf die historischen Quellen. Die herausragende dazu war ein Bericht der „Royal Commission“ über die Folgen von Speenhamland aus dem Jahre 1834, also kurz nachdem die Gesetzgebung aufgehoben wurde. Ein Artikel von Fred Block und Margret Somers, „In the Shadow of Speenhamland“ (2003), der online zugänglich und leicht auffindbar ist, hat sich mit der Rezeption der Speenhamland-Gesetzgebung und ihrer Ergebnisse in der dazu verfügbaren Literatur befasst. Sie legen in ihrem Beitrag ausführlich dar, wie schlecht die Datenlage zu Speenhamland ist, wie lückenhaft die Dokumentation, wie sehr die spezifische Situation Folge der Industrialisierung und einer wirtschaftlichen Problemlage im Süden Englands ist. Weiterhin gab es keine einheitliche Gesetzgebung, die von Speenhamland als Ganzem reden ließe und deswegen auch keine einheitliche Umsetzung. Darüber hinaus zeigen sie, wie sehr der Bericht der „Royal Commission“, auf den sich bezogen wird, mit feststehenden Theoremen arbeitete und lediglich auf Befragungen einzelner Personen in den jeweiligen Gemeinden (parishes) beruhte. Um ein BGE im heute diskutierten Sinne ging es gar nicht, allenfalls wäre der Begriff Kombilohn treffend. Zuletzt ist es ein Anachronismus, die Situation zur Zeit Großbritannies im frühen 19. Jahrhundert mit der heutigen in Deutschland zu vergleichen, eine Feudalstruktur mit einer demokratischen. Soll man Borcherts Rezeption nun nachlässig, fahrlässig oder propagandistisch nennen?

Erich Fromm

Lediglich verwiesen wird auf eine vermeintliche Äußerung Erich Fromms in „Psychologische Aspekte zur Frage eines garantierten Einkommens für alle“ (1966). Angeblich habe er dort festgestellt, dass die Menschheit noch nicht reif sei für ein Grundeinkommen (Borchert S. 216 f.). Borchert ist nicht der erste, der auf Fromm – der tatsächlich Vorbehalte hatte – verweist, er zitiert nicht einmal. Was schreibt nun Fromm?:

„Eine volle Wirksamkeit des Prinzips eines garantierten Einkommens für alle ist nur zu erwarten, wenn es gleichzeitig gekoppelt ist an (1.) eine Änderung unserer Konsumgewohnheiten, das heißt der Umwandlung des homo consumens in einen produktivtätigen Menschen (im Sinne Spinozas); (2.) die Herausbildung einer neuen geistigen Haltung des Humanismus (in theistischer oder nicht-theistischer Form) und (3.) eine Renaissance echter Demokratie (etwa in einem neuen Unterhaus, in dem die Entscheidung durch Integration der Beschlüsse von Hunderttausenden von kleinen Gruppen [face-to-face groups] zustande kommen, durch die aktive Beteiligung sämtlicher Mitarbeiter in allen Unternehmen und in jeder Art von Management usw. – vgl. meine Vorschläge am Ende von The Sane Society,1955a, GA IV, S. 224-239)…“

Fromm spricht nicht davon, dass solche Veränderungen Bedingung oder Voraussetzung der Einführung eines BGE (was er genau vor Augen hatte, ist nicht so klar) seien, sondern seiner „vollen Wirksamkeit. Das sind zwei paar Schuh. Eine Einführung könnte sehr wohl stattfinden und die Änderungen sich erst in der Folge ergeben, so lässt sich schlussfolgern. Anders als Borchert, der letztlich mit seiner Kritik dem Bürger seine Mündigkeit abspricht, äußert sich Fromm gar nicht zur Frage der Einführung an dieser Stelle. An Fromms Einschätzung könnte durchaus Kritik geäußert werden, wenn er den Menschen in seiner Zeit nur als „homo consumens“ sieht, nicht aber, dass auch damals schon die Menschen ihr Leben selbst in die Hand nehmen und die verschiedensten Entscheidungen über ihre Lebensführung selbst zu treffen hatten. Seine Bemerkung zur Demokratie erinnert eher an seine deutsche Herkunft, wenn er Staatsbürger als tragendes Fundament eines Gemeinwesens nicht von Mitarbeitern eines Unternehmens unterscheidet. Demokratie ist nicht erst dann eine, wenn sie bestimmte Ziele erreicht hat, sondern wenn nach den ihr gemäßen Verfahren Entscheidungen des Souveräns – sei es parlamentarisch, sei es direktdemokratisch – zustande kommen. Über die Ziele wird immer gestritten werden, das ist ein wesentliches Moment von Demokratie.

Weiter heißt es an dieser Stelle:

„…Der Gefahr, daß ein Staat, der alle ernährt, zu einer Muttergottheit mit diktatorischen Eigenschaften werden könnte, kann nur durch eine gleichzeitig Wirksame Vermehrung demokratischer Verfahren in allen gesellschaftlichen Bereichen begegnet {184} werden. (In Wirklichkeit verfügt ja heute der Staat bereits über außerordentliche Macht, ohne diese Möglichkeiten einzuräumen.)“

Worauf bezieht sich Fromm hier, was meint er? Wer ist der Staat? „Diktatorisch“ kann ein Staat nur werden, wenn er dafür Rückhalt bei den Bürgern hat, das lehrt die Geschichte. Das lehrt auch der „Erfolg“ der Agenda 2010. Genauso gilt, dass eine Demokratie nur lebendig ist, wenn die Bürger sie ernst nehmen und sie als ihre Angelegenheit begreifen. Würde Fromms These auf die Verhältnisse in Deutschland umgelegt werden, müsste man sagen: Die Haltung, das andere stets zu ihrem Glück gezwungen oder mit deutlich bevormundenden Mitteln dahin gedrängt werden müssen – sei es durch den Markt als Erziehungstechnik oder die paternalistische Fürsorge -, diese Haltung ist nun mal sehr verbreitet. Deswegen ist die Lage, wie sie ist. Es liegt also nicht an dem „Staat“, das wäre nur ein Abschieben der Verantwortung auf andere. Der Staat macht, was Mehrheitsauffassung ist.

Dieser Abschnitt bei Fromm hat also in der Tat etwas Selbstentmündigendes, denn es gilt nicht, zu warten, bis der „Staat“ etwas einräumt, die Bürger müssen es sich auf demokratischen Wegen verschaffen.

Es gibt noch eine weitere Passage in dem Text Erich Fromms, die häufig zitiert wird (so auch von Franz Segbers, siehe meinen Kommentar dazu hier):

„Mit den ökonomisch orientierten Forschungsarbeiten auf dem Gebiet des garantierten Einkommens für alle müssen auch noch andere Forschungen betrieben werden: psychologische, philosophische, religiöse und erziehungswissenschaftliche. Der große Schritt zu einem garantierten Einkommen wird meiner Meinung nach nur Erfolg haben, wenn Veränderungen in anderen Bereichen mit ihm Hand in Hand gehen.“

Wie schon oben macht Fromm diese Forschungsarbeiten nicht zur Voraussetzung der Einführung eines BGE, er hält sie nur für wichtig, damit ein BGE Erfolg haben kann. Es kann also keine Rede davon sein, dass Fromm salopp gesprochen, die Bürger nicht für reif halte, wie Borchert schreibt, er hat nur Vorbehalte, ob ohne solche Veränderungen auch die erhofften Wirkungen eintreten werden.

Fromm übersieht hierbei, dass in den USA zu dieser Zeit der demokratische Nationalstaat schon bestand und um seine Deutung gerungen wurde. Es war die Zeit der Bürgerbewegung, die dazu führte die Diskriminierung zu kritisieren und für Veränderungen zu streiten. Der homo consumens war also damals schon nur ein Aspekt des Lebens, nicht das ganze. Borchert macht sich nicht einmal die Mühe, sich mit Fromms Überlegungen zu befassen. Er greift zwar gerne zu Autoritäten, um seine Thesen zu belegen, nimmt von ihnen allerdings nur, was gefällt oder gar nicht gesagt wird.

Finanzierung

Zur Finanzierungsfrage äußert er sich ähnlich salopp: „Auch die Tatsache, dass viele Modelle schon vom reinen Verteilungseinkommen her die Grenzen des Volkseinkommens sprengen, kann die Jünger der Idee kaum bremsen“ (Borchert, S. 217). Welche meint er denn? Da keine Modelle genannt werden, ist die Kritik auch nicht nachvollziehbar, sorgt aber in ihrer Pauschalität dafür, beim unbefangenen Leser den Eindruck zu erwecken, die Sache sei nicht durchdacht. Es gibt nun verschiedene Finanzierungsberechnungen und ihre Brauchbarkeit bzw. Tragfähigkeit ist umstritten. Dass Finanzierungsberechnungen stets nur ceteris paribus gelten, wie er als offenbar große Einsicht herausstellt, ist eine Binsenweisheit. Es führt im Leben nichts daran vorbei, dass nicht gewusst werden kann, was am nächsten Tag auf einen zukommt. Borchert baut einen Popanz auf, um seine eigene Position zu stärken.

Menschenbild

Die Debatte über das Menschenbild, das ist der nächste Punkt, der angesprochen wird, komme einer „quasi-religiösen Arena“ gleich (Borchert, S. 217). Speenhamland habe doch in „aller Deutlichkeit“ gezeigt, wohin ein BGE führe. Erstaunlich ist, wie Borchert hier auf seinem Vergleich von Äpfeln mit Birnen beharrt. Dass es einer Wertschöpfung bedarf, damit ein BGE bereitgestellt werden kann, wer streitet das denn ab? Borchert unterstellt genau das jedoch den BGE-Befürwortern, Konzepte nennt er hier keine. Was er als „quasi-religiöse Arena“ geißelt, bestätigt er mit seinen Ausführungen selbst. In der Tat ist die Frage, welche Auswirkungen von einem BGE zu erwarten sind, eine des Menschenbildes, aber nicht eines ausgedachten, sondern des real vorfindlichen. Das Menschenbild der Demokratie setzt gerade voraus (siehe meinen früheren Beitrag), was Borchert für so abwegig hält, obgleich er auf seine Bedeutung an anderer Stelle selbst verweist (siehe unten Verantwortung)

Arbeitsverpflichtung

Aufschlussreich für Borcherts Haltung ist diese Passage, die auf die voranstehenden folgt:

„Es ist ja richtig, dass sich industriell mit minimalem Einsatz von Arbeitskraft ein maximaler Überschuss an Konsumgütern herstellen lässt. Das gilt aber nicht für den Pflegebereich, Gesundheitsdienstleistungen und die Landwirtschaft. Bei Ersteren steigen die Bedarfe sogar exponentiell an; humane Pflege bedeutet das Schenken von Zeit, und das lässt sich naturgemäß nicht rationalisieren. Ähnliches gilt für den Fall, dass die Geburtenzahlen wieder steigen sollten, auch für die Betreuung, Erziehung und Ausbildung von Kindern, denn diese haben sogar einen noch höheren Bedarf an individueller Zuwendung.“ (Borchert, S. 218)

Die Beschreibung der unterschiedlichen Leistungen, Produktion und Personendienstleistung, sind zutreffend. Doch, was folgt daraus? Gerade für die von ihm genannten Tätigkeiten bedarf es Mitarbeiter, die sich gerne in den Dienst der Bedürfnisse anderer stellen. Jemanden in einen solchen Beruf zu drängen, würde genau das Gegenteil dessen erreichen, was gut wäre. Wenn aber nicht frei gewählt werden kann, sondern dies unter der Verpflichtung geschieht, Einkommen erzielen zu müssen, ist das für die Ausübung des Berufs von Nachteil. Borchert, ohne das auszusprechen, argumentiert zwischen den Zeilen wie diejenigen, die beklagen, mit einem BGE würden die unangenehmen oder anstrengenden Tätigkeiten nicht mehr gemacht werden. Ja, wollen wir denn, dass Leute diese Tätigkeiten übernehmen, die sie nicht ausüben möchten? Wenn der Bedarf an Mitarbeitern in diesen Bereichen nicht gedeckt werden kann, dann bleibt offensiv dafür zu werben und notfalls eine öffentliche Debatte anzustoßen, um Menschen dafür zu gewinnen, sich in diesem wichtigen Bereich zu engagieren, das gilt auch heute. Weshalb fällt kein Wort über die schlechten Arbeitsbedingungen in der Pflege, über den relativ geringen Lohn, die Anstrengungen? Das wäre auch eine Erklärung dafür, weshalb manche in diesem Beruf nicht mehr tätig sein wollen.

Europa

Was die Rechtslage in Europa betrifft, das Europarecht, das Borchert (S. 219 f.) geltend macht, erleben wir gerade eine Diskussion darüber, wie es nun ist mit Arbeitslosengeld II-Leistungen für EU-Bürger in Deutschland. Dafür können, falls nötig, Regelungen geschaffen werden (siehe hier). Wo das Europarecht es untersagen sollte, müsste es selbst Gegenstand einer Diskussion werden, falls es einer nationalstaatlichen Einführung eines BGE entgegenstünde.

Verantwortung

Er schreibt:

„Die Prüfung des BGE fördert als Erstes nämlich die einfache Feststellung zutage: Das BGE ist in Wahrheit nicht bedingungslos und kann es gar nicht sein! Ganz einfach deshalb, weil es mit der Bedingung steht und fällt, dass ein Teil der Bürger für den Lebensunterhalt anderer Bürger zahlt. Dabei ist der Freiheit der einen zum Erwerbsverzicht denknotwendigerweise die Unfreiheit der anderen komplementär, die zahlen und abgeben müssen. Die einen sind gleicher, die anderen dafür unfreier…“

Die einen, so ließe sich das umformulieren, leben auf Kosten anderer (siehe verschiedene Kommentare von mir dazu). Die Last wird hier nur bei denen gesehen, die erwerbstätig sind, als seien diese Leistungen das Herausragendste überhaupt. Was ist mit den anderen, die in diese Bilanz gar nicht einbezogen werden: Familie, bürgerschaftliches Engagement? Dass dieser bilanzierende Blick ohnehin eine Gemeinschaft von Bürgern fremd ist, in der immer alle für alle einstehen müssen und von ihnen abhängig sind, kommt ihm gar nicht in den Sinn. Zu bilanzieren, wer was leistet, ist Symptom für ein Problem, und zwar dafür, dass Solidarität wie ein Vertrag mit festgelegten Leistungszwecken missverstanden wird. Das erforderte genau eine Debatte über das Gemeinwesen und die notwendige Solidarität, nicht aber ein Bilanzdenken.

„…Diesen Grundkonflikt verbergen manche Befürworter des BGE wie Nebelkrähen ihre Ostereier, indem sie die „staatliche Gemeinschaft“ für das BGE verantwortlich machen, die erst einmal allen das Gleiche zahlen und später dann mit deren wachsenden Einkommen verrechnen soll, sofern sie welche erzielen…“

Borchert hat wohl eine Negative Einkommensteuer vor Augen oder meint er nur das Verhältnis von Nettozahler und -empfänger von Steuern? Wie im ganzen Buch bleibt im Dunkeln, auf wen er sich bezieht. Zahlreiche Veröffentlichungen und öffentliche Stellungnahmen, dass nichts bereitgestellt werden kann, was nicht auch hervorgebracht wurde, es ein BGE nicht ohne Wertschöpfung geben kann. Nachzulesen ist das online. Das kümmert Borchert nicht, er fällt in seiner Undifferenzierheit hinter manchen Kritiker zurück. Davon abgesehen: das Verhältnis von Nettoempfänger und -zahler besteht immer, auch heute.

„…Das genau ist aber die Bedingung. Der Staat spielt im Märchen vom BGE [oder eher von Borchert? – SL] damit die transzendentale Wunderkuh, die im Himmel gefüttert und auf Erden gemolken wird. In Wahrheit sind wir jedoch alle dieser Staat, und jeder von uns hat prinzipiell die gleichen Rechte und Pflichten, muss deshalb prinzipiell auch immer gleichzeitig Verantwortung für sich und andere tragen[…]“ (Borchert, S. 222).

Ja, dem letzten Teil würde kaum jemand widersprechen. Und in der Tat: es gibt BGE-Befürworter, denen das nicht klar ist oder die davon nichts wissen wollen. Was aber hat das mit der Idee zu tun? Würde Borchert deswegen, weil es der Wertschöpfung bedarf, folgern, Erwerbstätigkeit und Konsum, denn vor allem so wird Steueraufkommen beschafft, seien der höchste Zweck? Alles, was nicht Erwerbstätigkeit ist, ist nichts? An anderen Stellen des Buches spricht er davon, wie sehr Familien z.B. von der Vorherrschaft der Erwerbstätigkeit bedrängt werden und was von früher Krippenbetreuung zu halten sei (Borchert, S. 73 f.; siehe auch S. 32 f.). In anderen Äußerungen begrüßt er die elitäre Elterngeldpolitik und akzeptiert die Zweiklassenelternschaft, die dadurch geschaffen wird. Das überrascht. Dafür, dass er Familien im Blick hat, könnte ihm zugestimmt werden. Genau, müssten wir ihm zurufen, das spricht für ein BGE und nicht dagegen. Es scheint jedoch, als halte er an der Vorstellung fest, dass es für die Kinder und das Familienleben als ganzes nur wichtig sei, die Mutter zuhause zu haben, nicht aber den Vater. Die Verbindung zum BGE nicht zu sehen, daran kann ihn nur sein Weltbild hindern, nicht aber, was er teils selbst ausführt.

„…Wer sich selbst helfen kann, muss dies in unserer Werteordnung [Borchert greift hier auf das Grundgesetz zurück, SL] also tun und darf nicht andere dafür verantwortlich machen. Zahlungen des Staates an Bürger, die zur Selbsthilfe in der Lage sind, sind damit denknotwendig ausgeschlossen.“ (Borchert, S. 223)

Und der Grundfreibetrag in der Einkommensteuer? Ist er nicht auch eine indirekte Zahlung? Dürfen ihn diejenigen nicht gelten machen, die zur Selbsthilfe in der Lage sind? Weiß Borchert nicht, dass es ihn gibt? Kaum vorstellbar. Doch auch andere, wie Heiner Flassbeck, argumentierten vor Jahren schon ähnlich und meinten, weshalb denjenigen etwas geben, die es nicht brauchen. Sie erhalten es indes heute auch, weil das Gemeinwesen es so will. Weshalb ihnen also ein BGE vorenthalten? Der Grundfreibetrag in der Einkommensteuer leitet sich davon ab, ein Existenzminimium bereitzustellen, Es ist keine steuertechnische Spielerei, vielmehr folgt es aus der Verfasstheit des Gemeinwesens als Gemeinschaft von Staatsbürgern. Und deren Stellung ist auch material zu schützen.

Borcherts Buch, in dem er nur auf wenigen Seiten auf das BGE eingeht, bietet in den anderen Kapiteln manch interessante Überlegung. Seine Ausführungen zum BGE bezeugen allerdings, dass er es schlicht loswerden will. Es passt ihm nicht, und zwar so wenig, dass er sich nicht einmal damit ernsthaft auseinandersetzen will. Nur so ist der starke qualitative Abfall zwischen diesem Teil des Buches und den anderen wohl zu erklären.

Sascha Liebermann