„Das tätige Leben – heute und morgen“…

…darauf wagt der Historiker Jürgen Kocka einen Blick im Debattenmagazin Berliner Republik(Jubiläumsausgabe). Er hebt mit einer Feststellung an, die bemerkenswert und vielsagend ist:

„Unsere Gesellschaft hört nicht auf, eine Arbeitsgesellschaft zu sein. Die Arbeit ist ihr nicht ausgegangen, wie namhafte Sozialwissenschaftler vor ein paar Jahren prophezeiten: Noch nie haben prozentual so viele Deutsche Erwerbsarbeit geleistet wie heute. Nach wie vor beruhen wirtschaftliche Leistungskraft, sozialer Zusammenhalt, kulturelle Orientierung und politischer Einfluss in hohem Maße auf Erwerbsarbeit. Aber die Arbeitsgesellschaft ändert sich grundlegend, in zumindest drei wichtigen Hinsichten…“

In der Tat war die These vom „Ende der Arbeit“ vorschnell und unpräzise. Dabei sollte aber nicht übersehen werden, dass ein Blick auf die Entwicklung des Arbeitsvolumens einen zu solchen Überlegungen führen konnte und kann. Denn, bei aller Zunahme der Erwerbstätigen, die auch Kocka offenbar für bemerkenswert hält, hat das Arbeitsvolumen kaum zugenommen, es verteilt sich also nur auf mehr Köpfe. Die Gründe für die deutsche Entwicklung sind nicht so klar (siehe „Geht der Gesellschaft die Arbeit aus?“ und „Irre Beschäftigungseffekte, wirklich tolles Land…“).

Die Behauptung, dass „wirtschaftliche Leistungskraft, sozialer Zusammenhalt, kulturelle Orientierung und politischer Einfluß“ in hohem Maße auf Erwerbsarbeit beruhen, ist erstaunlich. Zwar wird immer wieder behauptet, dass Erwerbsarbeit für den sozialen Zusammenhalt wichtig sei, doch spricht nichts dafür, dass dies in einem fundamentalen Sinne tatsächlich so ist. Sie hat zwar ihren Ort und ihre Bedeutung für unser Gemeinwesen. Der Zusammenhalt, den sie stiftet, ist aber keiner, der sich auf die Person als ganze richtet, die um ihrer selbst willen anerkannt würde, sondern nur auf sie als Mitarbeiter insofern, als sie der Erledigung einer Aufgabe dient. Im Erwerbsverhältnis ist der Einzelne gerade deswegen austauschbar, weil er nicht um seiner selbst willen wirkt, es geht um eine Aufgabe oder Sache, für die und nur in Relation zu der er wirken soll. Wo er das nicht mehr angemessen kann, muss er ersetzt werden. Das ist weder unmenschlich, noch Ausdruck von Kälte oder Sinnentleerung, wie manchmal zu lesen ist, sondern für eine arbeitsteilige Aufgabenbewältigung unerlässlich. Die Würde der Person ist dadurch nicht in Frage gestellt, weil sie diese Würde von sich aus hat und nicht erst durch Erwerbsarbeit erlangt (siehe hier und hier). Die Würde erfährt der Einzelne an anderen Orten, wo es auch tatsächlich um ihn um seiner selbst willen geht: in Familie und Gemeinwesen. Im Erwerbsleben wird die Würde erst dann virulent, wenn sie nicht geachtet oder der Zweck, dem ein Mitarbeiter dient, mit der Würde und damit den Grundlagen der politischen Ordnung kollidiert. Wenn Kocka feststellt, dass politischer Einfluss in hohem Maße auf Erwerbsarbeit beruhe, wäre das gerade problematisch – würde indes erklären, weshalb Tätigkeitsfelder jenseits von Erwerbsarbeit als Privatvergnügen betrachtet werden.

In einer späteren Passage schreibt Kocka:

„…Vieles von dem, was im 19. und frühen 20. Jahrhundert vornehmlich von Frauen im Haus erledigt wurde, ist zum Gegenstand von Erwerbsarbeit oder zur Aufgabe sozialstaatlicher Träger geworden. Der Rückgang der durchschnittlichen Kinderzahl hat die familiären und häuslichen Aufgaben stark reduziert. Die schnell ansteigende Frauenerwerbsarbeit ist teils Antrieb, teils Folge dieser Entwicklung…“

In der Allgemeinheit, in der er schreibt, wird man dem Autor leicht zustimmen können, doch wie ist es genau zu verstehen? Ist es tatsächlich so, dass die Aufgaben, die mit Familie einhergehen, heute weniger vereinnahmend sind? Was durch die Nutzung moderner Haushaltsgeräte oder die Übertragung von Aufgaben an Dienstleister an Zeit gewonnen wird, weil sie nicht mehr mit aufwendigen manuellen Tätigkeiten verbracht werden muss, ist Zeit, die frei wird, um sie den Kindern zu schenken. Sie ist damit sogleich wieder vereinnahmt für eine andere Aufgabe. Denn unsere Lebensverhältnisse verlangen dem Einzelnen heute eine individuierte Lebensführung ab, d.h. es gibt keine traditionelle Antwort mehr auf die Frage nach dem Sinn des eigenen Lebens, die den heutigen Lebensverhältnissen gemäß wäre. Deswegen ist auch die inviduierte Zuwendung zu den Kindern von so großer Bedeutung und zeitaufwendiger, als es traditionale Zuwendung war, denn diese individuierte Zuwendung fördert die Individuierung der Kinder wiederum und schafft damit die Grundlage für eine autonome Lebensführung. Diesen Wandel ernst genommen wird die Rede von der Arbeitsgesellschaft in ihrer Unangemessenheit noch deutlicher, weil sie für Familie gerade nicht den Raum lässt und ihn auch nicht schafft, den sie bräuchte, um sich diesen Herausforderungen zu stellen (siehe„Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ und „…wir wollen, dass jeder sein Leben in Würde selbst finanzieren kann…“)

Gegen Ende heißt es dann:

„…In dem Maße, in dem die Erwerbsarbeit stärker durch nicht-marktbezogene Arbeit ergänzt und mit dieser verknüpft wird, eröffnet sich auch ein inhaltsreicheres Verständnis der Arbeitsgesellschaft. Eine Arbeitsgesellschaft neuer Art, die der Erwerbsarbeit weiterhin einen zentralen Stellenwert einräumt, zugleich aber von menschlicher Arbeit anderer Qualität ebenfalls lebt: eine Arbeitsgesellschaft über die reine Erwerbsarbeit hinaus? Eine „Tätigkeitsgesellschaft“, wie Ralf Dahrendorf es formulierte? Eine Arbeitsgesellschaft, die zugleich Bürgergesellschaft (Bürger im Sinne von citizen) ist und gerade nicht in der Logik des Kapitalismus aufgeht? Vielleicht ist dies das zentrale Merkmal der gegenwärtigen Situation – und eine Chance für die Zukunft…“

Hier, erst gegen Ende, eröffnet der Beitrag den Ausblick darauf, etwas anderes zu sein als eine Arbeitsgesellschaft und verharrt doch zugleich in ihren Grenzen. Der Begriff „Arbeitsgesellschaft“ ist für unsere Lebensverhältnisse unangemessen und geht an ihren Fundamenten vorbei. Schon heute hinkt unser Selbstverständnis der tatsächlichen politischen Ordnung hinterher. Was uns zusammenhält, ist nicht die Arbeitsgesellschaft, es ist die politische Gemeinschaft – das mag uns nicht klar sein, ist jedoch die Realität.

Sascha Liebermann