Über lasche Sanktionen und Bürger, die „brav“ zur Arbeit gehen – Heinrich Alt zum Grundeinkommen

…zumindest, wenn man dem Bericht in focus glauben kann. Dort wird Heinrich Alt, ehemaliger Vorstand der Bundesagentur für Arbeit, wie folgt wiedergegeben:

„Alt bemängelte, dass wenn jemand eine Kürzung von 30 Prozent bekommen habe, könne er künftig machen, was er wolle. Mehr Sanktion gebe es nicht. „Er braucht sich nicht mehr zu melden, nicht mehr zu kooperieren. Er muss nur noch seine Kontonummer angeben, bekommt 70 Prozent des Regelsatzes und die Miete voll bezahlt”, so Alt weiter. Das halte er für falsch. Besonders gegenüber denjenigen, „die das alles finanzieren, jeden Morgen aufstehen und brav zur Arbeit gehen“ und sich an die Spielregeln halten müssten.“

Alles zu lasch, kein Disziplinierungsinstrument mehr, so lässt sich schließen. Das komme einer „bedingungslosen Grundsicherung“ gleich – wieder eine Verdrehung, denn Hartz IV erhält nur, wer bestimmte Bedingungen erfüllt. Deutlich macht Alt damit, was er vom Existenzminimum hält, es gilt nicht bedingungslos, ganz wie er sich zum Bedingungslosen Grundeinkommen früher schon geäußert hatte, das sei eben eine „Horrorvision“. Was kümmert ihn das Urteil des Bundesverfassungsgerichts dazu.

Man beachte: „die […] jeden Morgen […] brav zur Arbeit gehen“ – eine hübsche Vorstellung vom Bürger hat er da, der ehemalige BA-Vorstand als Erzieher der Widerspenstigen?

Sascha Liebermann

„Germany just got a universal basic income, and nobody noticed“ – oder vielleicht doch ein Missverständnis?

Die Frage stellt sich anlässlich eines Beitrags von Dennis Pachernegg auf Medium. Er deutet das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Sanktionen im Arbeitslosengeld II als faktische Absegnung eines Bedingungslosen Grundeinkommens. Dabei ist ihm offenbar die Widersprüchlichkeit des Urteils nicht aufgefallen, die von einigen Kommentatoren herausgehoben wurde. Wie es auf der einen Seite den Gesetzgeber in Schranken weist und Sanktionen für nicht verfassungsgemäß erklärt, erlaubt es auf der anderen aber auch Totalsanktionen. Der Gesetzgeber muss zwar keine Sanktionen einsetzen – sie folgen also nicht aus dem Grundgesetz -, darf es aber. Insofern ist das Urteil auf der einen Seite ein Fortschritt und zugleich eben doch nicht.

Was der Autor vollständig übersieht, ist die normative Dimension der Gesetzgebung. Bei aller Verurteilung der Gesetzgebung und der Sanktionspraxis durch das Bundesverfassungsgericht wird am normativen Vorrang von Erwerbstätigkeit nicht gerüttelt. Genau dieser aber ist entscheidend dafür, in welche Position ein Leistungsbezieher von Arbeitslosengeld rückt. Er muss sich gegenüber der Behörde erklären, die Rechtfertigungslast liegt bei ihm, nicht andersherum. Selbst wenn also Sanktionen ganz abgeschafft würden, bliebe der normative Status, dass Erwerbstätigkeit das Erwünschte ist, Nicht-Erwerbstätigkeit negativ, bestehen.

Sascha Liebermann

„Die Angst vor Sanktionen ist prägend für das Leben von Betroffenen“ – Bettina Kenter-Götte im Interview

Siehe frühere Beiträge von uns zu Bettina Kenter-Götte und ihre Erfahrungen hier.

„Im Zweifel gegen Menschen“ – Behördenschelte, doch: die Haltung ist auch außerhalb verbreitet…

…sonst gäbe es „Hartz IV“ gar nicht, Alina Leimbach in neues deutschland. Auch wenn nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts anderes erhofft werden kann, es sollte nicht vergessen werden, wie sehr der Sozialstaat, den wir haben, in unserem Selbstverständnis verankert ist, man schaue nur in die Zeit davor, siehe „‚Sanktionen gab es übrigens auch schon vor den Hartz-Reformen‘ – Verklärer aufgepasst!“.

Sascha Liebermann

Die Bundesagentur will offenbar an Sanktionen über 30% festhalten

„Arbeitslose fördern statt ins Existenzminimum eingreifen“ – Sanktionen aufheben, aber Erwerbsgebot beibehalten?

Diese Frage stellt sich angesichts einer Pressemitteilung auf der Website des Deutschen Gewerkschaftsbundes am Tag der Verkündung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zu Sanktionen im Arbeitslosengeld II. Unter dem Beitrag ist eine „gemeinsame Erklärung“ veröffentlicht worden, die verschiedene Personen – Politiker, Verbandsvertreter und Wissenschaftler – unterzeichnet haben. Sie schließt mit der Forderung:

„Darum fordern die Unterzeichnenden, die bestehenden Sanktionsregelungen aufzuheben. An Stelle der geltenden Sanktionsregelungen ist ein menschenwürdiges System der Förderung und Unterstützung nötig!“

„Arbeitslose fördern statt ins Existenzminimum eingreifen“ – Sanktionen aufheben, aber Erwerbsgebot beibehalten? weiterlesen

„Es bleibt ein Hauch von Obrigkeitsstaat“ – auch hier eine Verklärung des „alten“ Sozialstaats…

…im Beitrag von Stephan Hebel in der Frankfurter Rundschau über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Doch geht das Urteil nicht ganz so weit, wie Stephan Hebel es auslegt, Vollsanktionen bleiben möglich, der Gesetzgeber muss dazu nur bestimmte Bedingungen einhalten. Irritierend ist auch in diesem Beitrag die Verklärung des Sozialstaats vor Hartz IV, so als habe es zuvor keine Sanktionsinstrumente gegeben (siehe hier, darin den Verweis auf Roland Rosenow). Dabei besteht zwischen der Erwerbszentrierung des Sozialstaats, die mit einer Erwerbsverpflichtung einhergeht, und Sanktionsinstrumenten ein notwendiger Zusammenhang. Erst wenn wir uns von der Erwerbsverpflichtung verabschieden würden, wie es Robert Habeck in seinem Vorschlag einer Garantiesicherung entwirft, wäre der Weg für eine andere Form von Mindesteinkommen geebnet, eine Art Vorstufe zu einem Bedingungslosen Grundeinkommen.

Wenn „wir“ uns davon verabschieden? Ja, es hängt nicht von „der Politik“ oder „den Politikern“ ab, wie lange daran festgehalten wird, sondern davon, was die Bürger zu tragen bereit sind. Solange sie Sanktionen im Grunde für richtig und vernünftig halten, so lange wird es sie geben.

Sascha Liebermann