Unbezahlte und bezahlte Tätigkeiten – Abgrenzung und Fallstricke

Auf diese Schwierigkeit der Abgrenzung ist schon von verschiedener Seite zu Recht hingewiesen worden, sehr differenziert z. B. von Norbert Schwarz und Florian Schwahn. Zwar ist es nachvollziehbar, wenn dennoch versucht wird, den Umfang „unbezahlter Arbeit“ zu quantifizieren, gerade wenn man auf ihre Bedeutung hinweisen will, man begibt sich aber auch in ein schwieriges Fahrwasser. Das zur Abgrenzung bemühte Drittperson-Kriterium muss vom konkreten Beziehungsgefüge abstrahieren, soweit es möglich ist und damit genau eine entscheidende Dimension vernachlässigen, und zwar die zwischen Beziehungen, die sich auf die ganze Person als solche beziehen und solchen, die klienten- bzw. kundenorientierten Charakters sind. In ersteren sind die Personen nicht austauschbar, in letzteren schon. Setzt man beide Beziehungstypen gleich, ebnet man den grundlegenden Unterschied beider ein. Genau das ist in den vergangenen Jahrzehnten besonders in der Frage zu beobachten, wie sich inner- und außerhäusliche Betreuung von Kindern zueinander verhalten. Letztere konnte mit der Abstrahierung von der konkreten Beziehung forciert werden.

Siehe zu dieser Frage diesen Beitrag und hier.

Sascha Liebermann

„Was tun wir, wenn wir nicht müssen?“ – Corinna Hartmann blickt auf das Pilotprojekt Grundeinkommen, benennt Schwächen von Feldversuchen…

…, geht darin aber nicht weit genug.

Corinna Hartmann schreibt auf spektrum.de angesichts des bevorstehenden Starts des Pilotprojekts Grundeinkommen über das Vorhaben. Sie gibt darin einen Überblick über Feldversuche, die auf der einen Seite als Feldversuche zum BGE eingeführt werden, zum anderen in ihren Grenzen benannt werden. Bestimmt werden diese Grenzen aber nur entlang standardisierter Verfahren der „empirischen Sozialforschung“ (darunter werden nicht-standardisierte Verfahren in der Regel nicht verstanden), hierbei geht es dann vornehmlich um die Auswahl der Probanden oder die Größe der Stichprobe. An einer Stelle wird das untersuchte Grundeinkommen mit einem Lottogewinn verglichen, weil die Lebensbedingungen derer, die keines erhalten, gleich blieben, sie also – so müsste man es weiterspinnen – einen privilegierten Status erhalten.

Weshalb werden die Möglichkeiten nicht-standardisierter Forschung hier nicht zumindest erwähnt?

Entweder sind sie der Autorin nicht bekannt oder sie hält sie nicht für relevant – was der Fall ist, bleibt im Dunkeln. Auffällig ist jedoch, wie weit verbreitet die Vorstellung ist, verallgemeinerbare Erkenntnisse ließen sich nur über standardisierte Verfahren und große Fallzahlen gewinnen, eine Vorstellung, die für diese Verfahren in gewissem Sinne zutrifft, sie erlauben jedoch nur eine empirische Generalisierung (Verbreitung von Typen), nicht eine Strukturgeneralisierung (Bestimmung von Typen). Gerade letzteres kann aber wichtige Beiträge zur Diskussion liefern.

Siehe meine methodische Kritik zum Pilotprojekt hier.

Misslich ist eine gewisse Flapsigkeit in dem Beitrag, z. B. wenn vom „Staatsgeld“ für alle die Rede ist, denn jegliche Form öffentlicher Förderung ist letztlich „Staatsgeld“, das aber zum größten Teil von den Bürgern stammt. Auch ist es verkürzt, den in der Diskussion um die Schweizer Volksabstimmung häufig genannten Betrag von 2500 Schweizer Franken mit dem Umrechnungskurs in Euro zu vergleichen, ohne die Kaufkraftverhältnisse zu beachten, das ist schlicht irreführen.

Sascha Liebermann

„Pilotprojekt Grundeinkommen“ – Einsichten und Aussichten

Zum zweiten Mal schon hat der Vorschlag eines Bedingungslosen Grundeinkommens in diesem Jahr erhebliche mediale Aufmerksamkeit gefunden. Als aufgrund der Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus im Frühjahr Kontaktbeschränkungen erlassen wurden, in deren Folge Einkommen für viele Bürgerinnen und Bürger wegbrachen und sich die Frage stellte, wie dem begegnet werden könnte, wurde das BGE medial aufgegriffen. Auch gab es Petitionen auf verschiedenen Wegen, die zumindest für die Zeit der Krise eine Art Grundeinkommen vorschlugen. Im vergangenen August wiederum war der Anlass ein anderer. Michael Bohmeyer, Gründer des Berliner Vereins „Mein Grundeinkommen“, kündigte unter dem Motto „Wir wollen es wissen“ in einer Pressekonferenz an, ein Pilotprojekt zum Grundeinkommen durchführen zu wollen. An seiner Seite waren zwei Wissenschaftler, die die wissenschaftliche Begleitung des Vorhabens erläuterten und das Studiendesign vorstellten. An Superlativen bei der Vorstellung der Studie wurde nicht gespart, wie jüngst auch Manuel Franzmann konstatiert hat, allerdings ist der Verein Mein Grundeinkommen bislang schon nicht durch sachliche Berichte über seine Aktionen aufgefallen, obwohl diese ja durchaus spektakulär waren. Welcher Verein kann schon von sich sagen, dass er monatlich über 600 000 Euro per Spenden einsammelt? Besonders irritierend ist das Auftreten, da es sich um ein Forschungsprojekt handelt, die Offenheit des Ergebnisses zwar hervorgehoben wurde, zugleich aber der Verein seinen Erfolg angesichts bisheriger Gewinner eines Grundeinkommens und ihrer Erfahrungen stets herausstellte. Das soll nun keinesfalls gegen die Durchführung des Projekts sprechen und auch die Seriosität der involvierten Wissenschaftler nicht in Frage stellen, ist aber zumindest eine irritierende Ausgangskonstellation, auch wenn in das Wissenschaftssystem schon von längerer Zeit selbst eine gewisse Marketinghaltung Einzug gehalten hat. Jürgen Schupp, der an der FU-Berlin Professor für Empirische Sozialforschung und zugleich Senior Research Fellow am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) ist, war nicht nur in der Pressekonferenz dabei, er bezog danach mehrfach in den Medien Stellung und hat damit eine besondere Position inne. Das DIW kündigte ebenfalls in einer Pressemitteilung das Vorhaben an und der Präsident des DIW, Marcel Fratzscher, begleitete die Ankündigung mit einer Stellungnahme, in der er – der sich bislang stets gegen ein BGE ausgesprochen hatte – die Erprobung befürwortete. Dass es nun zu einem solchen Pilotprojekt überhaupt kommen konnte, verdankt sich der jahrelangen, beharrlich geführten öffentlichen Diskussion, die medial leider häufig nicht angemessen differenziert dargestellt wird.

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Unbezahlte Arbeit, „vorgeschützte Methodenkritik“ und die Verführbarkeit von Diskutanten

Unter diese Überschrift muss man wohl eine Diskussion – oder eher: Diskussionsverweigerung, Schubladendenken oder gar Feindbildpflege – verbuchen, die Elfriede Harth mit ihrem Tweet ausgelöst hat, der auf meinen Beitrag zur begrenzten Aussagekraft von sogenannten Zeitverwendungsstudien hinweist. Ich hatte mich zur Aussagekraft statistischer Erhebungen zum Stundenvolumen „unbezahlter Arbeit“ geäußert, dass sie nicht nur unpräzise sind, sondern durch das zur Erhebung eingesetzte Kriterium für Unklarheit sorgen:

„Zur Abgrenzung der unbezahlten Arbeit von persönlichen Tätigkeiten und Freizeitaktivitäten wird das sogenannte „Dritt-Personen-Kriterium“ herangezogen. Danach zählen alle Aktivitäten, die auch von einer anderen Person gegen Bezahlung übernommen werden können, zur unbezahlten Arbeit.“ („Entwicklung der unbezahlten Arbeit privater Haushalte“, S. 37)

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Meinungsumfragen und Pseudo-Wirklichkeiten

Nachdem ich vor wenigen Wochen von der Meinungsumfrage zum Bedingungslosen Grundeinkommen berichtet hatte, die auf dem Future-of-Work-Kongress von Dalia Research Anfang Mai in Zürich vorgestellt wurde (hier eine genauere Darstellung der Befragung), machte sie nun ihre Runde durch die Medienberichterstattung (siehe auch basic income news) (weitere Umfragen hier, und hier). Wie oft bei Meinungsumfragen wird kaum innegehalten und die Frage gestellt, was sie denn eigentlich abbilden? Was lässt sich aus ihnen schließen und was nicht?

Meinungsumfragen gehören zum festen Bestand des heutigen Lebens, da sie in allen möglichen Bereichen zum Einsatz kommen: Konsumentenbefragungen, Kundenbefragungen, Bürgerbefragungen usw. usf. Vor Wahlen kommen sie zum Einsatz wie auch danach. Wer wissen will, was das Volk, die Kunden oder sonstwer angeblich denkt, lässt eine Meinungsumfrage durchführen. Doch folgendes sollte bedacht werden, wenn es um die Aussagekraft solcher Befragungen geht.

1) Schon angesichts der Durchführung könnten einem Zweifel kommen, ob denn auf dem Weg, den solche Befragungen beschreiten, überhaupt Bedeutsames herausgefunden werden kann. Es dominieren heute Telefon- oder Online Befragungen. Erstere können von Callcentern durchgeführt werden. Das macht es einfacher und billiger, als zu den Interviewees hinzufahren. Für online-Befragungen gilt Ähnliches. In der Fachöffentlichkeit hingegen wird seit langem darauf hingewiesen, dass diese Verfahren einige Probleme bergen. Eines davon ist die mangelnde Ernsthaftigkeit, die in der unverbindlichen Fernbefragung zum Ausdruck kommt. Statt Interviews face-to-face zu führen, wird darauf verzichtet. Gerade die face-to-face-Befragung bringt jedoch authentisches Interesse am Interviewee zum Ausdruck. Man hat den Weg auf sich genommen, ihn aufzusuchen. Das hat Auswirkungen auf die Befragungsqualität und erlaubt für den Interviewer zugleich festzustellen, wie aufmerksam der Interviewee mit den Fragen umgeht. Bei Telefonbefragungen ist das kaum möglich, bei Online-Befragungen gar nicht. Manch einer hat schon die Erfahrung schon gemacht, wie eine solche Befragung abläuft, wenn er zuhause mit etwas beschäftigt war und irgend ein Callcenter „nur zwei Minuten“ für eine Umfrage haben wollte.

2) Weil Meinungsumfragen standardisiert verfahren (so auch überwiegend die bekannte Shell-Jugendstudie und andere), d. h. Fragen wie Antwortmöglichkeiten feststehen, erfassen sie nur, was sie vorsehen, nicht aber die unvorhergesehenen Antworten der Befragten. Wenn einmal ergänzende Antworten möglich sind, müssen sie wiederum standardisiert werden, damit sie verarbeitet werden können – oder sie fallen unter den Tisch. Diese Art des Vorgehens in der Datenerhebung führt dazu, dass die Antworten der Befragten in Einzelmerkmale zerlegt werden. Man erhält nicht Zugang zu den Denk- und Deutungswelten der Interviewees, wie es in nicht-standardisierten Interviews möglich ist, die einer Gesprächssituation gleichen. Nicht einmal weiß man, ob die Fragen verstanden wurden. In nicht-standardisierten Interviews führt der Interviewee in seiner Ausdrucksweise aus, so lange er etwas zu sagen hat oder der Interviewee nachfragt (das ganze wird aufgezeichnet). Auf diesem Weg erhält man Einblick in Deutungsmuster und handlungsleitende Überzeugungen, die eine Person in der Regel, ohne dass es ihr bewusst ist, wie ein innerer Kompass leiten. Auf diese Weise wird erhoben, was der Interviewee zu sagen hat, er wird ernst genommen als Gegenüber im Gespräch und nicht in vorgeformte Schachteln gesteckt. Mit einem detaillierten, der konkreten Ausdrucksweise sich anschmiegenden Auswertungsverfahren eröffnet sich eine reichhaltige Lebenswirklichkeit, die weitreichende Schlussfolgerungen auf allgemeine Zusammenhänge erlaubt (weiterführende Darlegungen zu der Problematik standardisierter Verfahren finden sich hier).

3) Umfragen, die sich auf die Zukunft richten, auf zukünftige Ereignisse oder Entscheidungen, fragen nach hypothetischen Konstellationen. Auf sie soll der Interviewee dann eine, ebenso hypothetische, Antwort geben. Es wird angenommen, die Befragten wüssten, was sie in einer Situation tun würden, in der sie gar nicht sind. Diese Annahme setzt ein Individuum voraus, dass sowohl über seine handlungsleitenden Überzeugungen wie auch seine Weltdeutungen voll im Bilde ist und dabei noch angeben kann, wie das zukünftig sein wird. Wer ein wenig die eigenen Erfahrungen durchforstet oder im Alltag aufmerksam beobachtet, wie Entscheidungen zustande kommen, wird eines Besseren belehrt. Nicht einmal über den morgigen Tag können wir sagen, was wir tun werden, wir haben allenfalls etwas vor. Wer mit nicht-standardisierten Interviews oder ähnlich gehaltvollen Protokollen menschlichen Handelns forscht, weiß, wie groß die Diskrepanz zwischen dem, was jemand als Gründe für sein Handeln angeben kann und dem, was sich in seinem Handeln zeigt, sein kann. Diese Diskrepanz zwischen „Einstellung“ und „Verhalten“, wie sie in der Methodenliteratur gefasst wird, ist die Krux standardisierter und dazu noch hypothetischer Befragungen. Sie erzeugen eine Pseudorealität ganz gleich den Befunden, dass die Mehrheit der Deutschen gegen „Hartz IV“ sei, sich aber sonderbarerweise diese Mehrheit nirgendwo im wirklichen Leben zu erkennen gibt.

4) Da es beim Bedingungslosen Grundeinkommen nun um etwas geht, das wir nicht nur nicht haben, sondern es zugleich mit erheblichen Veränderungen in den Möglichkeiten zu handeln einhergeht, ist die hypothetische Frage noch weiter entfernt vom konkreten Leben, als das ohnehin schon der Fall ist bei hypothetischen Fragen. Wie soll jemand zu einer solchen Frage eine aussagekräftige Einschätzung haben, wenn er zum Befragungszeitpunkt keine Erfahrungen mit einem BGE hat machen können?

Meinungsumfragen in Form solch standardisierter Erhebungen sind also aus vielerlei Gründen wenig bis gar nicht aussagekräftig. Es lässt sich aus ihnen nicht erschließen, was Befragte konkret beschäftigte, als sie die Fragen beantworteten, wie sie denken und welche Überzeugungen ihr handeln leiten. Wie für alle, auch noch so gute nicht-standardisierte Erhebungen und Auswertungen, gilt, dass sie keine Aussagen über zukünftiges Handeln erlauben. Vermutungen kann man immer anstellen, plausiblere und weniger plausible, sie sind aber keine Tatsachenaussagen.

Wir können es als Symptom unserer Zeit verstehen, in der wissenschaftliche Methoden für das Ausloten von Handlungsmöglichkeiten und etwaiger Folgen unerlässlich geworden sind, dass Meinungsumfragen einen derart festen Platz einnehmen, zugleich aber am konkreten Leben meist abprallen. Das mindert nicht ihre Brisanz, wenn in Fragen öffentlichen Interesses solche Umfragen herangezogen werden, um politisch zu gestalten, statt den eigenen Überzeugungen zu folgen. Allzuoft werden Meinungsumfragen mit Tatsachen gleichgesetzt – eine Realität jenseits der Realität entsteht. So auch mit den jüngsten Umfragen zum BGE, sei es pro, sei es contra. Das wirkliche Leben wird mit einem statistisch wahrscheinlichen verwechselt, das letztere ersterem übergeordnet. Angesichts dessen, dass Umfragen die eigenwilligen Antworten des Interviewees nicht in sich aufzunehmen in der Lage sind, kann man nur empfehlen, an ihnen nicht mitzuwirken. So wird der Welt allerhand Unsinn erspart. Ganz anders als in Abstimmungen mit bindendem Charakter, so wie in einer Woche in der Schweiz. Da kommt es zu einer Entscheidung, für die in der Folge Verantwortung übernommen werden muss.

Sascha Liebermann

Wissenschaft und Praxis – ein Kommentar zum Bericht von Enno Schmidt über den Kongress des Basic Income Earth Network

Enno Schmidt hat einen Bericht über den Kongress des Basic Income Earth Network in Montréal verfasst und seine Eindrücke dargelegt. Sie geben einen guten Einblick in die sehr unterschiedlichen Interessen am und Blicke auf das Bedingungslose Grundeinkommen, wie sie die Teilnehmer des Kongresses erkennen ließen. Teils, so scheint es, bleibt die Argumentation für ein BGE in der Bekämpfung von Armut stecken. So wichtig es ist, dagegen etwas zu tun, vom BGE bleibt sie nur eine Seite und kann leicht die vielen anderen Seiten verdecken.

Eine Einschätzung Enno Schmidts teile ich nicht, zumindest nicht so, wie sie im Bericht zu lesen ist. Er schreibt:

„Die Wissenschaftlichkeit lockt mit dem Erwiesenen anstatt dem Eigenen. Damit zieht sie Kräfte anderer an sich und stellt sie vor die rote Ampel. Denn da geht es nicht zum Grundeinkommen. Da geht es zu einem Auftreten in etablierten Formen. Man möchte sich keine Blöße geben. Man hofft, damit zu überzeugen. Aber wer soll daraus was machen?“

Diese Einschätzung ist eine Kritik an „Wissenschaftlichkeit“, damit auch an Wissenschaft. Woran aber genau? Das „Auftreten in etablierten Formen“ verweist auf Konventionen und Gebräuche, die es in der Wissenschaft gibt. Sie sind außerhalb des Wissenschaftmilieus oft unverständlich, teils sind sie durchaus festgefahren und steif. Man kann sich hinter ihnen in der Tat verstecken und mit Jargon beeindrucken oder verunklären. Teils allerdings sind die Konventionen schlicht deswegen für Außenstehende befremdlich, weil Wissenschaft keine Antworten auf die Frage danach geben kann, was sein und wie gelebt werden soll. Das erwartet die Praxis aber gemeinhin und überschätzt so, was Wissenschaft in praktischen Fragen zu leisten in der Lage ist. Sie bietet keine Sicherheiten und keine Gewissheiten für die Zukunft, nur Erkenntnisse über die Vergangenheit, und das noch unter dem Vorbehalt der Falsifikation. Methoden, die dazu eingesetzt werden, sind so unterschiedlich wie die Traditionen der wissenschaftlichen Disziplinen. Das macht es nicht einfacher, den Stellenwert von Befunden zu bewerten für diejenigen, die mit den Verfahren und den Tücken von Verfahren nicht vertraut sind. Deswegen kann in jeder Talk-Runde jeder seine Studie hochhalten, die dies oder jenes beweise. Solange man die Studie nicht gelesen und ihr methodisches Vorgehen verstanden hat, ist die Bewertung der Ergebnisse nicht möglich. Belegen, Nachweisen, Streit in der Logik des besseren Arguments – das „Erwiesene“ – das ist das Zentrum von Wissenschaft, daran muss sie sich messen und messen lassen. Beweisführungen müssen der Logik des besseren Arguments folgen, Autoritäten gibt es nicht, sie gelten nichts. Was Enno Schmidt beklagt, ist ihr Lebensnerv.

In anderer Hinsicht aber tifft er einen wunden Punkt, das Kind sollte jedoch nicht mit dem Bade ausgeschüttet werden. Wenn Wissenschaft dazu benutzt wird, praktische Interessen zu bemänteln und hinter Verfahren und Methoden zu verstecken, ist diese Kritik berechtigt.  Der Wissenschaftler, der meint, aufgrund seiner Forschung sagen zu können, was praktisch richtig wäre, was zu wollen wäre, betreibt verkappte Politik. Das ist zu trennen, wie es schon Max Weber in seinem Verständnis vom Gebot der Werturteilsfreiheit dargelegt hat. Will er sich als Bürger für etwas einsetzen, das er für richtig hält, dann soll er es tun. Will er dazu forschen, dann soll er auch dies tun. Aber beides sollte er nicht in einen Topf werfen, denn dann ist beides dahin. Enno Schmidts Kritik ist berechtigt, wenn sie das meint, sie ist auch berechtigt, wenn sie sich an diejenigen richtet, die hoffen, Wissenschaft könne sagen, was sie zu tun hätten. Diese Hoffnung schwingt in der BGE-Diskussion mit, wenn es um Berechnungsmodelle geht, die erweisen sollen, das es schon klappen wird mit dem BGE.

Von wissenschaftlichen Kongressen, von Wissenschaft im Allgemeinen, ist lediglich Aufklärung darüber zu erwarten, wie empirische Phänomene zu erklären sind, nicht aber, was daraus zu machen wäre. Insofern ist es angemessen, Wissenschaft in ihre Schranken zu weisen, nicht aber sie deswegen zu verdammen, weil sie etwas, das sie nicht kann, auch nicht tut.

Sascha Liebermann