Nach der Volksinitiative ist vor der Volksinitiative (ist Rheinau)?

So – ohne den Einschub in Klammern – formulierten es zumindest manche Befürworter der Eidgenössischen Volksintiative „Für ein Bedingungsloses Grundeinkommen“ (siehe auch hier) in der Schweiz nach der Volksabstimmung am 5. Juni 2016. Ist das bloß Selbstcharismatisierung oder eine realistische Einschätzung? Grundsätzlich gilt für jede demokratisch legitimierte Entscheidung, dass nach ihrem Zustandekommen diejenigen, die mit ihr nicht zufrieden sind, sich erneut für die von ihnen favorisierte Alternative einsetzen können. Das ist trivial. Einen anderen Sinn könnte man dem abgewinnen, wenn beachtet wird, wie die Abstimmung über die Volksinitiative auf Kantonsebene 2016 ausfiel. Dann zeigt sich, dass von insgesamt 27 Kantonen in 20 mit über 30 Prozent für die Volksinitiative gestimmt wurde. Zwei von diesen 20 votierten sogar mit über 40 Prozent dafür. Nun werden die einen sagen, dennoch ist sie abgelehnt worden, das ist richtig. Richtig ist allerdings ebenso, dass eine Zustimmung von 30 Prozent und mehr nicht mehr als Ausrutscher verbucht werden kann und sich die Frage stellt, wie die starke Zustimmung zu verstehen ist und was daraus folgen könnte.

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Was bringt nun die Digitalisierung? Eine Frage zwischen wissenschaftlicher Analyse und festen Überzeugungen

Was sie nun bringen wird, weiß keiner, kann auch keiner wissen, und dennoch äußern sich immer wieder auch Wissenschaftler ganz besonders bezüglich etwaiger Folgen technologischer Innovationen (Digitalisierung) auf den Bedarf an menschlicher Arbeitskraft (Erwerbsarbeit) – um „unbezahlte Arbeit“, den größeren Teil des Arbeitsvolumens, geht es dabei ohnehin nie. In der öffentlichen Diskussion mag dies nicht verwundern, weil die Frage, was denn nun die Digitalisierung bringt, der Sorge darum entspringt, was mit den Arbeitsplätzen geschieht. Ist dann nur eine Sorge um Einkommensplätze? Dafür könnte Abhilfe geschaffen werden – durch ein Bedingungsloses Grundeinkommen.

Es scheint eben um etwas anderes zu gehen, etwa die Überzeugung, dass der „Mensch“ ohne Beschäftigung moralisch verwahrlose, in der Welt hilflos umherirre, nicht in der Lage, sich selbst eine Aufgabe zu suchen oder gar zu schaffen. Damit hätte Erwerbsarbeit jedoch nicht mehr die Bedeutung, für Wertschöpfung unerlässlich zu sein, es ginge vielmehr um Volkserziehung, zumindest, wenn schon nicht für alle, dann für bestimmte Gruppen.

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Wurden die Kritiker am Grundeinkommen in der Langen Nacht in Basel unterdrückt?

Kommentare in den Medien, die in diese Richtung wiesen oder dem Publikum Einseitigkeit vorwarfen, gab es verschiedentlich (z. B. hier). Sicher, es war eine Veranstaltung, zu der vor allem Befürworter kamen. Doch das aggressive und auch zynische Auftreten von Lukas Rühli (avenir suisse) und Reiner Eichenberger (Universität Fribourg) trug zu der einseitigen Stimmung durchaus bei. Sehen Sie selbst.

„Grundlegend uneinig – Streitgespräch zum Grundeinkommen“…

zwischen Daniel Häni und Reiner Eichenberger. An einer Stelle gegen Ende sagt Eichenberger: „Der Nutzen des bedingungslosen Grundeinkommens wäre tatsächlich gross, wenn es finanzierbar wäre…“ Siehe auch den Kommentar von Sascha Liebermann, der deutlich macht, dass Eichenberger sehr wohl weitergehende Einwände hat als den der Finanzierbarkeit.

„Grundeinkommen führt in die Knechtschaft“ – nachlässige oder mutwillige Schlussfolgerungen?

…meint Reiner Eichenberger von der Universität Fribourg (Schweiz) in einem Beitrag für die Handelszeitung. Er plädiert gegen ein Bedingungsloses Grundeinkommen und für ein Grundkapital. In seinem Beitrag schreibt er gleich zu Beginn:

„Bald stimmen wir über das bedingungslose Grundeinkommen ab. Für seine Verfechter ist es eine Art Befreiungstheologie. Sie predigen, dank Grundeinkommen könnten alle arbeiten, weil sie wollen, nicht weil sie müssen.“

Ist das ein Zeichen dafür, dass es ernst wird in wenigen Wochen in der Schweiz, wenn solche Polemik nötig ist? In Deutschland, es liegt schon einige Jahre zurück, sind Grundeinkommensbefürworter mit „Evangelikalen“ verglichen worden. Das sprach ebenfalls Bände. – Und: stimmt es etwas nicht, dass ein BGE mehr Freiräume verschaffen würde, so dass das Wollen im Zentrum stehen kann?

Er schreibt weiter:

„Zudem beseitige es [das BGE, SL] die Sozialhilfefalle: Die heutige bedingte Sozialhilfe mindert die Arbeitsanreize der Leistungsempfänger, weil deren Bezüge entsprechend ihrem erarbeiteten Einkommen gekürzt werden.“

Gibt Eichenberger hier nun die „Befreiungstheologen“ wider oder ist das seine Position? Dass das BGE auch in der Sozialhilfe alles ändern würde, ist klar. Die Einschätzung zur „Sozialhilfefalle“ ist verbreitet und gehört zu den gängigen Behauptungen. Ihr empirischer Gehalt ist jedoch alles andere als gesichert, wie die Untersuchungen „Wer sitzt in der Armutsfalle“ von Georg Vobruba, Hanna Petschauer, Ronald Gebauer gezeigt haben. Gebauer hat sich in einer eigenen Arbeit „Arbeit gegen Armut“ der Frage nochmals gewidmet und die Befunde erhärtet. Wie das mit Theoremen so ist, sind sie schnell aufgestellt, verbinden sich mit gewissen Vorurteilsstrukturen der Alltagswelt und verbreiten sich dann als Gewissheiten. Für die Schweiz sei auch auf die Studie „Working Poor in der Schweiz“ hingewiesen, darin sind besonders die Fallanalysen von Stefan Kutzner aufschlussreich, um zu verstehen, vor welchen Schwierigkeiten Sozialhilfebezüger stehen und wie wenig das Armutsfallentheorem trägt.

Eichenberger wird dann dramatisch – man muss die Formlierung wohl als Anspielung an ein Buch von Friedrich von Hayek verstehen:

„Doch das Grundeinkommen führt nicht in die Freiheit, sondern in die Knechtschaft. Die Initianten vertreten ein Grundeinkommen von 30 000 Franken jährlich für alle, was insgesamt über 200 Milliarden jährlich kosten würde. Wenn das Ganze nicht defizitär sein soll, muss ein Durchschnittsbürger mit heute etwa 50 000 Franken steuerbarem Einkommen sein eigenes Grundeinkommen aus seinem Arbeitseinkommen finanzieren. Dafür bräuchte es einen Steuersatz von rund 60 Prozent auf seinem gesamten Einkommen. Hinzu kämen die Steuern für alle anderen Staatsleistungen. Einkommenssteuersätze von 80 bis 100 Prozent wären also angesagt.“

Hier würde man gerne wissen, wie er gerechnet hat. Die Auswirkungen sind davon abhängig, wie die Steuerabschöpfung gestaltet wird, wobei das nicht mechanisch zu verstehen ist, so als führe das eine direkt zum anderen. Es muss aber auch berücksichtigt werden, wie sich ein BGE, aufgrund der Handlungsmöglichkeiten, die es schafft, auf die Wertschöpfung (Produktivitätssteigerung), die Arbeitsabläufe, die vermutliche Abnahme von „face time“ (siehe auch hier), weil es mehr um Wertschöpfung als um Anwesenheit am Arbeitsplatz gehen würde, auswirkt.

Für Eichenberger weist das hingegen in eine ganz andere Richtung:

„Die negativen Anreize gegen Erwerbsarbeit und für Steuervermeidung sind offenkundig. Je mehr Einwohner aber der Steuer ausweichen, desto höher müssen die anderen besteuert werden und desto enger muss die Kontrolle werden.“

Was er nonchalant übergeht, ist hingegen von weitreichender Bedeutung: dass nämlich die Bürger eines Gemeinwesens grundsätzlich loyal sind und sein müssen, damit ein Gemeinwesen überhaupt existieren kann. Massenhafte Steuervermeidung wäre ein Vergehen gegen die Rechtsgemeinschaft. Wenn es dazu kommt, muss schon zuvor Vieles geschehen sein oder die Rechtsgemeinschaft als politisches Gemeinwesen in Frage stehen. Diesen Fall sieht Eichenberger offenbar mit einem BGE gekommen, das ist allerdings wiederum eine bloße Behauptung und er vergisst darüber, dass das BGE ja nur dann eingeführt werden kann, wenn es in der Abstimmung eine Mehrheit erhält. Damit wäre es demokratisch legitimiert und bindend für alle Bürger. Würde Eichenberger daran zweifeln, dass solche Entscheidungen auch als bindend angesehen werden? Oder vertraut er einfach nicht darauf, dass die Bürger in der Regel loyal sind?

Ganz konsequent ist dann auch sein Szenario:

„Die Finanzierung des Grundeinkommens bringt deshalb einen absoluten Überwachungsstaat. Aber nicht nur die Freiheitsverheissungen sind falsch, sondern auch die Bezeichnung bedingungsloses Grundeinkommen: Wirklich erhalten würden es nur diejenigen, die nicht arbeiten.“

Und all das folgt nur aus dem „Anreiz“-Modell, dessen Geltung einfach so dahingestellt wird. Weshalb erhalten es „wirklich“ nur die, die nicht arbeiten? In dieser Schlussfolgerung werden zwei Dinge verwechselt: 1) Die Frage, wer Nettozahler und -empfänger ist – dabei geht es darum, wer, finanztechnisch gedacht, mehr Steuern bezahlt, als er in Gestalt des BGE erhält. 2) Diese erste Frage hat mit der zweiten gar nichts zu tun, in der es um den Bereitstellungsmodus geht. Das BGE würden alle erhalten, ganz gleich, ob sie andere Einkommen hätten. Somit erhielte es jeder, weil es an die Person geht in Absehung von ihrem Leistungsvermögen. Dadurch unterscheidet sich das BGE vollständig von Lohnersatz- (Arbeitslosengeld) oder Einkommenskompensationsleistungen (Sozialhilfe), die wie heute kennen. Das BGE basiert auf einer anderen Solidarvorstellung. Ganz gleich ob nun jemand Nettozahler oder -empfänger ist, der Charakter des BGE bleibt erhalten. Wer allerdings bilanziert, ob jemand mehr Steuern bezahlt oder erhält, kann das nicht sehen. Dann sieht er eben nicht den anderen normativen Charakter des BGE.

Zuletzt sei noch die folgende Passage kommentiert:

„Lehrreich ist das Verhalten kluger Eltern. Sie geben ihren Kindern keine lebenslangen Renten, sondern ein Startkapital.“

Schon dieser Vergleich bezeugt, wie schnell unterschiedliche Dinge in einen Topf geworfen werden. Eichenberger kann ihn ja nur deswegen bemühen, weil er eine Versorgung durch die Eltern mit einer durch das Gemeinwesen gleichstellt. Familien sind jedoch im Unterschied zur modernen Demokratie partikularistische Gebilde, die Beziehungen sind von Loyalität zueinander als konkrete Menschen bestimmt. Familie ist, was die Kinder betrifft, eine Zwangsstruktur, sofern die Eltern stets die letzte Entscheidung darüber haben, was gemacht wird. Die Legitimationsquelle elterlicher Entscheidungen sind nicht die Kinder. Wenn Eltern eine lebenslange Rente bezahlen, setzen sie die Abhängigkeitsverhältnisse in der Familie fort. Solche „Renten“ würden eine Loyalität gegenüber den Eltern befördern und damit Autonomie als Bürger unterlaufen. Genau diese Abhängigkeit ist aber mit der in einem demokratischen Gemeinwesen nicht vergleichbar, denn Loyalität dort muss gegenüber der politischen Gemeinschaft als ganzer, nicht gegenüber einzelnen Personen bestehen. Deswegen sind Demokratien universalistisch oder wie Ralf Dahrendorf es einmal ausgedrückt hat: Der Staatsbürger ist der Feind aller Klassen, ganz gleich aus welcher Familie oder welchem Milieu er kommt.

Die Rentenbezieher, um bei dem Beispiel zu bleiben, sind die Bürger als Träger des Gemeinwesens, als Souverän und Geltungsquelle der politischen Ordnung. Während die „Rente“ durch Eltern asymmetrische Familienbeziehungen zwischen Eltern und Kindern fortsetzen würde, bestärkt die „Rente“ des Gemeinwesens an seine Bürger gerade die symmetrischen Beziehungen unter Gleichen. Was gleich aussieht, wie Eichenberger meint, sind also zwei grundlegend verschiedene Dinge.

Mit dieser Vermischung durch Eichenberger bricht der ganze Vergleich zusammen, der wohl darauf hinauslaufen sollte, die Abhängigkeit von Vater Staat als drohende Folge eines BGE an die Wand zu malen. Doch eines ist hier noch bemerkenswert. Die drohende Abhängigkeit, die Eichenberger vom Staat ausmacht, ist ja interessanterweise gerade Bestandteil seines Gegenmodells. Denn darin ist Autonomie, im engeren Sinne Leistung und Selbstversrogung, von Anreizen abhängig, die den Einzelnen dazu anregen, für sich selbst zu sorgen. Woher kommt die Vorstellung, er brauche dazu Anreize? Wer Anreize braucht, um verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen, ist der nicht vollständig abhängig von einer auf ihn einwirkenden, stimulierenden Kraft? Es ist das Anreizdenken, das in die Abhängigkeit hineinführt, nicht das Bedingungslose Grundeinkommen.

Sascha Liebermann