„Grundeinkommen in der Schweiz: Wie weiter?“…

„Analyse, Reflexion und ein Ausblick“ von Che Wagner, veröffentlicht auf grundeinkommen.ch. Der Beitrag gibt Einblick in die Schweizer Diskussion vor der Volksabstimmung im letzten Juni und eröffnet eine Aussicht darauf, was nun folgen könnte.

Dass Volksabstimmungen Schritte erlauben, die dort, wo dieses Initiativrecht fehlt, nur auf Umwegen möglich sind, ist unbestritten. Deswegen aber repräsentative Demokratien damit gleichzusetzen, dass das Volk darauf warten müsse, bis „Eliten“ bereit seien, Veränderungen herbeizuführen, wie Che Wagner schreibt, halte ich für überzogen. Denn diese „Eliten“ sind gewählte Repräsentanten, die sehr wohl auf öffentliche Debatten reagieren und durch sie gedrängt werden können, Fragen aufzugreifen. Genau das war ja ein Ergebnis der jüngeren Grundeinkommensdiskussion nach der Jahrtausendwende, die mit wenigen Aktiven begann und sehr früh schon erstaunliche Resonanz erhielt, denn Parteien, Interessenverbände und die Kirchen nahme Stellung zum BGE. Heute kann der Vorschlag als etabliert gelten, obwohl er noch keine Mehrheiten findet, weder in der Schweiz noch in Deutschland.

Direkte oder repräsentative Demokratie – in beiden zählen Mehrheiten. Auf sie kommt es an. Es kommt einer Verklärung gleich zu meinen, in repräsentativen Demokratien gäbe es Mehrheiten, die sich gegenwärtig nicht artikulieren könnten, da es keine Volksabstimmungen gibt, wie man manchmal lesen kann.

Sascha Liebermann

„Volksabstimmungen für alle“…

…eine Diskussionsrunde bei hart aber fair mit einer irreführenden Ankündigung.

Auf der Website der Sendung finden sich informative Hinweise. Deutlich machen sie, sehr klar ist das auf der Seite der Schweizer Bundesverwaltung, dass repräsentative und direkte Demokratie nicht gegeneinanderstehen, wie so oft suggeriert wird. Auch sind Volksabstimmungen nicht einfach JA-NEIN-Entscheidungen, sondern Entscheidungen über einen formulierten Vorschlag, der abgelehnt oder dem zugestimmt wird. Bei Zustimmung sind Regierung und Parlament mit der Umsetzung beauftragt. In der Schweiz werden die meisten Gesetze vom Parlament erlassen und nicht über Volksabstimmungen auf den Weg gebracht. Die Schweizer können aber gegen Parlaments- Kantons- und Gemeindeentscheidungen Referendum ergreifen. 

Mehr Demokratie e.V. hat eine Übersicht zur Haltung der deutschen Parteien zur Volksabstimmung auf Bundesebene angefertigt und zugleich nachgefragt, wie sie dazu stehen. Die Antworten sind interessant und vielschichtig. Die meisten, bis auf die CDU, befürworten Volksabstimmungen in der einen oder anderen Form.
Auf die überraschenden Positionsverschiebungen im Verhältnis zu früheren Diskussionen über Volksabstimmungen hat Frank Lübberding in seinem Kommentar zur Sendung hingewiesen.

Sascha Liebermann

„Denn beim Volk, das ist eine paradoxe Wahrheit, ist die Demokratie nicht gut aufgehoben“…

…meint Jakob Augstein in seiner Kolumne bei Spiegel online mit dem Titel „Volk und Wahrheit„. Über manche Kommentare kann man nur staunen, auch darüber wie weit sie an der Realität vorbeigehen. Augstein erweist sich hier selbst als einer derer, die es besser zu meinen wissen als die Bürger, doch von welcher Warte aus? Die Einwände kommen einem, wenn man mit der Grundeinkommensdiskussion vertraut ist, bekannt vor.

Er schreibt unter anderem:

„…Zwischen Wahlvolk und Politik macht sich eine große Entfremdung breit. Es herrscht ein Notstand der politischen Legitimation. Wie behebt man den? Durch Partizipation? Sollen die Menschen an den politischen Entscheidungen mehr beteiligt werden? Bloß nicht.
„Wenn man Europa kaputtmachen will, dann braucht man nur mehr Referenden zu veranstalten.“ Jean Asselborn, Außenminister von Luxemburg, sagte das nach dem Nein der Niederländer zum EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine. Asselborn findet, dass Referenden in einer parlamentarischen Demokratie kein geeignetes Instrument sind, um schwierige Fragen zu beantworten…“

Nun, Referenden und repräsentative Demokratie widersprechen sich nicht. In der Schweiz wird beides praktiziert und man kann nicht gerade sagen, dass es nicht funktionieren würde. Dass die EU nicht gerade über Referenden erfreut ist, hat sich schon öfter gezeigt. Sie werden so lange für gut befunden, so lange die gewünschten Ergebnisse herauskommen. Solche Kommentare trifft man in Deutschland übrigens auch öfter, wenn – wie Augstein es ebenfalls tut – auf Abstimmungsergebnisse in der Schweiz geschaut werden. „Oben“ weiß man also besser als „unten“, was richtig und gut ist. Das ist der Elitismus, der den Bürgern vielleicht gerade zum Halse heraushängt.

In anderem historischem Zusammenhang hat Max Weber einmal etwas beschrieben, dass Augsteins Befürchtungen in einem besonderen Licht erscheinen lässt:

„Daß der Deutsche draußen, wenn er das gewohnte Gehäuse bürokratischer Bevormundung um sich herum vermißt, meist jede Steuerung und jedes Sicherheitsgefühl verliert, — eine Folge davon, daß er zu Hause sich lediglich als Objekt, nicht aber als Träger der eigenen Lebensordnungen zu fühlen gewohnt ist —, dies eben bedingt ja jene unsichere Befangenheit seines Auftretens, welche die entscheidende Quelle seiner so viel beklagten »Fremdbrüderlichkeit« ist. Und seine politische Unreife ist, soweit sie besteht, Folge der Unkontrolliertheit der Beamtenherrschaft und der Gewöhnung der Beherrschten daran, sich ohne eigene Anteilnahme an der Verantwortlichkeit und folglich ohne Interesse an den Bedingungen und Hergängen der Beamtenarbeit ihr zu fügen.“ (Max Weber, „Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland“, in: Gesammelte politische Schriften, S. 258, Tübingen 1988).

Theodor W. Adornos schon in den 1960er Jahren geäußerter Einwand gegen die Sorge, man könne den Menschen zuviel zumuten, weist in eine ähnliche Richtung.

Augstein schreibt weiter:

„…Wer mehr Partizipation in die Demokratie rührt, dem fliegen die Reagenzgläser um die Ohren. Aus gutem Grund gibt es Parlamente. Sie schützen die Demokratie vor dem Volk und das Volk vor sich selbst. Denn beim Volk, das ist eine paradoxe Wahrheit, ist die Demokratie nicht gut aufgehoben. Volkes Stimme und Fortschritt – das geht nicht gut zusammen. Die Schweizer wollten keine Minarette, die Hamburger keine Gemeinschaftsschulen und die Niederländer jetzt keinen Vertrag mit der Ukraine. Vernünftig war das alles nicht – und fortschrittlich erst recht nicht…“

Was ist an der Entscheidung der Schweizer unvernünftig oder undemokratisch gewesen? Läge es nicht zuerst einmal näher, sich zu fragen, was die Bürger damals dazu bewogen hat, den Neubau von Minaretten zu verbieten, statt die Entscheidung für unvernünftig zu erklären? Dasselbe gilt für die Entscheidungen in Hamburg und den Niederlanden.

Wenn Augstein auf Erkenntnisse der Wahlforscher verweist, dass bestimmte Milieus ihre Rechte, hier: das Wahlrecht, stärker wahrnehmen als andere, dann wäre ebenfalls zu fragen, ob die Bürger dafür nicht selbst gerade zu stehen haben, wenn sie ihre Rechte nicht wahrnehmen? Er scheint einen politischen Paternalismus vorzuziehen, der weiß, was für die Bürger gut ist. Das Wahlrecht ist zum Glück nicht mit einer Wahlpflicht verbunden und dennoch entlässt es die Mehrheit nicht aus der Verantwortung, auch die Interessen der Minderheit zu beachten.

Zum Schluss schreibt er noch:

„Das ist auch eine Erklärung dafür, wie es sein kann, dass seit zwanzig Jahren in den westlichen Staaten die soziale Ungleichheit trotz freier Wahlen immer weiter zunimmt. Offenbar ist die Demokratie kein geeignetes Instrument, um für Gerechtigkeit zu sorgen. Die Welt hat ihren Siegeszug gesehen. Aber das Wort Demokratie bedeutet nichts mehr.“

Wie schnell dann doch die Bereitschaft sich zeigt, die Demokratie auch abzuräumen, wenn sie Entscheidungen zustande bringt, die einer für ungerecht hält.

Sascha Liebermann

Siehe auch folgende Kommentare zu Augsteins Beitrag:
Kommentar von Mehr Demokratie e.V.
Kommentare auf den Nachdenkseiten
Kommentar von Susanne Wiest

Schweiz: „Bundesrat Berset kritisiert Grundeinkommen: «Total übertrieben»“…

…berichten die Basellandschaftliche Zeitung und die Neue Zürcher Zeitung. Siehe in derselben Zeitung auch „Oswald Sigg über das Grundeinkommen: «Wir müssen auch das Unmögliche denken»“. Siehe auch den Beitrag auf grundeinkommen.ch mit zahlreichen Medienhinweisen. Zur offiziellen Stellungnahme des Bundesrates.

„Apropos Reifeprüfung“…

…ein Beitrag vn Martin Senti in der Neuen Zürcher Zeitung über die Mündigkeit des Volkes, der folgendermaßen schließt:

„Es ist also die Direktdemokratie als Verfahren, welche die Politik legitimiert, und nicht das sachpolitisch tatsächlich Erreichte. Damit wird auch jede situativ bewertete «Mündigkeit» der Stimmbürger obsolet – das bleibt Geschmacksache. Wenn schon pädagogisiert werden muss, dann passt «Reife» am ehesten auf das System der Konkordanz selber, das auch verhaltensauffällige Parteien wie die SVP auszuhalten versteht.“

Siehe auch „Niemand sagt, Direktdemokratie sei das Allheilmittel“

„Bedingungsloses Grundeinkommen: Ein Gespenst geht durch Europa“

Ein Interview in SWR 2 vom 11. Februar zur Volksabstimmung in der Schweiz mit dem Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dr. Thomas Straubhaar, Universität Hamburg, drehte sich um das Bedingungslose Grundeinkommen. Die Bemerkung des Moderators zu Beginn des Gesprächs, wie denn das „Bergvolk“ dazu komme, darüber abzustimmen, ist an Hochnäsigkeit kaum zu überbieten. Straubhaar übergeht das höflich und verweist sogleich auf die direkte Demokratie, die in der Schweiz fest verankert sei. Er sieht die Chancen für eine Zustimmung zur Volksiniatitive schlecht, da nicht spezifiziert sei, wie das BGE aussehen solle. Zugleich aber eröffne die Volksinitiative die Chance, über die Zukunft der Sicherungssysteme zu diskutieren. Es sei ein Irrglaube, dass Arbeit nur ein Muss sei, „das ungerne geleistet“ werde.

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