Bundesverfassungsgericht beschäftigt sich vermutlich im Januar mit Klage gegen Sanktionen

Laut junge Welt soll sich das Bundesverfassungsgericht im Januar mit der anhängigen Anrufung durch das Sozialgericht Gotha befassen, ob Sanktionen im Sozialgesetzbuch Grundrechte verletzen. junge Welt beruft sich dabei auf ein Schreiben, das der Verein Tacheles e. V. erhalten und veröffentlicht haben soll. Sanktionen werden schon lange kritisiert, manche erhoffen sich von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ein wegweisendes Urteil, wir sind da verhaltener, denn selbst, wenn das BVerfG Sanktionen für vereinbar mit dem Grundgesetz beurteilen würde, wäre damit die politische Frage nicht beantwortet, ob wir als Gemeinwesen sie für richtig halten. Interessant in diesem Zusammenhang ist auch ein Gutachten der Fachabteilung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), die sich ebenfalls kritisch zu Sanktionen äußert, sich damit aber im Widerspruch zur Auffassung des Bundesvorstandes befindet.

Sascha Liebermann

Sanktionen im SGB II – Stellungnahme des DGB online

Die DGB-Stellungnahme zu Sanktionen im SGB II ist bei labournet verfügbar und wurde anlässlich der beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Klage des Sozialgerichts Gotha erstellt. Der Deutsche Gewerkschaftsbund wollte offenbar nicht, dass diese Stellungnahme Verbreitung findet und hat sie aus dem Netz nehmen lassen. Näheres zur Vorgeschichte bei labournet. Offenbar entspricht die Stellungnahme der DGB-Fachabteilung nicht den Ansichten des Bundesvorstands, der bislang in dieser Frage der Auffassung von Andrea Nahles folgte.

Sozialgericht Gotha bringt Sanktionen erneut vor das Bundesverfassungsgericht

Geschehen ist das schon im vergangenen August, nachdem das Bundesverfassungsgericht die erste Vorlage zurückgewiesen hatte. Auch Tacheles e. V. aus Wuppertal wurde um eine Stellungnahme zur Vorlage und dem Sachverhalt gebeten, ebenso der Paritätische Wohlfahrtsverband. Die Stellungnahme von Tacheles Sozialhilfe e. V. ist auch interessant, um Einblick in die Entstehung des Bundessozialhilfegesetzes und die es betreffende Rechtsprechung zu erhalten. Siehe auch den Kommentar in Christel T’s Blog (Beitrag nicht mehr zugänglich, SL 2.11.18) und die Aufzeichnung einer Diskussion zur Frage: Hartz IV-Sanktionen verfassungswidrig – ein Streitgespräch.

„Hartz-IV-Sanktionen: Karlsruhe kippt Richtervorlage wegen Formfehler“…

…schreibt junge Welt. Es geht dabei um die Beschlussvorlage des Sozialgerichts Gotha, das in der Sanktionspraxis einen Grundrechtsverstoß erkannte. Hier geht es zur Pressemitteilung des Bundesverfassgungsgerichts vom 2. Juni. Siehe einen früheren Kommentar von uns dazu hier.

„Eingriff in Grundrechte“…

…unter diesem Titel berichtet die junge welt von einer Veranstaltung mit dem Gothaer Richter Jens Petermann über die Sanktionspraxis der Jobcenter und die dazu bestehende Gesetzgebung (siehe frühere Meldungen bei uns hier). Petermann gehört der Kammer des Gothaer Sozialgerichts an, die im Juni das Bundesverfassungsgericht zu einer Klärung angerufen hat, ob die Gesetzgebung und Sanktionspraxis verfassungsgemäß ist. Eine Passage aus dem Artikel sei hier zitiert:

„Petermann sprach von einer juristischen und einer politischen Ebene, auf der die Praxis angegangen werden müsse. Letztere beschreibe die Stimmung, unter der die Agenda entstanden ist und fortgeführt wird. »Die Mehrheit ist meiner Einschätzung nach pro Sanktionen«, sagte er. Dabei spiele das Menschenbild vom »faulen Erwerbslosen« und gleichzeitiges Ausblenden wirtschaftlicher Faktoren eine tragende Rolle. Hier seien kritische Politiker gefordert. Bundestagsfraktionen könnten beispielsweise eine Normenkontrollklage in Karlsruhe erwirken. Diese würden in der Regel schneller beschieden als Richtervorlagen…“

Auf diesen Umstand habe ich meinem Beitrag zur Aktion von Ralph Boes hingewiesen. Die Gesetze, die die Sanktionspraxis ermöglichen, sind nach demokratischen Verfahren zustande gekommen, dadurch sind sie legitimiert. Wer sie für nicht legitim hält, muss dagegen mit politischen Mitteln vorgehen, wobei stets vorausgesetzt bleiben muss, dass die Würde des Menschen Grundlage jeden Handelns bleibt. Das ist eine eminent politische und keine juristische Frage. Sich über die Geltung des Rechts einfach hinwegzusetzen ist ein Willkürakt und zieht – wir vor etlichen Jahren in der Diskussion um zivilen Ungehorsam deutlich wurde – entsprechende Konsequenzen nach sich. Die Geltung des Rechts muss dann wiederhergestellt werden. Die Alternative wäre, sich der Rechtslage zu beugen, so bitter das für jeden sein muss, der mit ihr nicht einverstanden ist. Ein nach demokratischen Verfahren zustandegekommenes Gesetz steht in seiner Geltung jedoch über dem Einzelnen.

Petermann wird weiter so zitiert:

„…Juristisch gehe es um die Auslegung von Gesetzen. Die sei sehr unterschiedlich. So deklarierte das BVerfG das physische und soziokulturelle Existenzminimum als »dem Grunde nach unverfügbar«. Aus dem Zusatz »dem Grunde nach« bastelten einige »Experten« die Einschränkung, dass Bedürftige verpflichtet werden könnten, ihr Minimum nur unter Einhalten von Auflagen zu erhalten. »Das ist schlicht falsch«, rügte Petermann. Ein weiteres Problem sieht er darin, dass Jobcenter bei Klagen von Betroffenen von der Zahlung der Gerichtskosten ausgenommen seien. Andere Behörden und Krankenkassen müssten etwa 150 Euro pro Verfahren löhnen. »Hätten Jobcenter auch diesen Druck, würde sich vielleicht etwas ändern«, vermutet Petermann.“

Wie Petermann selbst herausstellt, ist die juristische Frage eine, in der es um die Auslegung von Gesetzen im Verhältnis zur Verfassung geht. Es geht also nicht mehr um demokratische Verfahren, sondern um juristische Methodenlehre. Petermann legt die Verfassung anders aus, als es bisher getan wurde, andere legen sie anders aus. Wenn er davon spricht, dass die hier monierte Auslegung „falsch“ sei, ist das dann eine Schlussfolgerung aus der juristischen Auslegungstechnik oder eine aus einem politischen Werturteil? Nehmen wir den Fall, dass das Bundesverfassungsgericht die Gesetzeslage und Sanktionspraxis für verfassungsgemäß hielte, was dann? Sollte deswegen das politische Ringen um eine Veränderung unterlassen werden? Natürlich nicht, da es hierbei nicht um juristische Auslegungstechnik geht, sondern um Willensbildung. Das Bundesverfassungsgericht fragt und prüft nicht, wie wir zusammenleben wollen, genau darum jedoch geht es jedoch in der Diskussion und in der Aktion von Ralph Boes. Die Selbstbestimmung des Souveräns einer politischen Ordnung, also der Gemeinschaft von Bürgern, findet ihren entscheidenden Ausdruck gerade in der Gesetzgebung. Sie findet im Parlament statt. Aus gutem Grund hat das Bundesverfassungsgericht keine Durchsetzungsmacht, es kann keine Exekutive beauftragen, seine Urteile durchzusetzen. Das sollten wir ernst nehmen.

Ohnehin ist es eine sonderbare Eigenheit des Grundgesetzes, die Würde des Menschen nicht in ihrer Geltung vorauszusetzen und sich zu ihr in der Präambel zu bekennen, wie es in anderen Verfassungen der Fall ist. Das Grundgesetz erhebt mit Artikel 1 die Würde zu einem Wert, der erst durch es geschaffen werde. Eine Abschaffung oder Außerkraftsetzung der Verfassung würde dann eine Abschaffung oder Außerkraftsetzung der Würde zur Folge haben. Das wäre die Konsequenz daraus, die Würde des Menschen juristisch zu betrachten, nicht politisch.

Sascha Liebermann

„Das gefährdet die Existenz“…

…so Richter Jens Petermann vom Sozialgericht in Gotha, das die Sanktiongsregelung im SGB II vom Bundesverfassungsgericht überprüfen lassen will, in einem Interview mit dem mdr. Siehe auch diesen Beitrag des mdr.

Siehe unseren Kommentar zur Frage, ob solche Fragen juristisch oder politisch gelöst werden müssen sowie weitere Kommentare hier und hier zur Geschichte der Sanktionen im Bundessozialhilfe- wie im Arbeitsförderungsgesetz von 1969. An dem heute geltenden Sozialgesetzbuch gibt es Vieles zu kritisieren, es sollte jedoch nicht der Eindruck entstehen, das sei alles von gestern auf heute über uns gekommen – es hat vielmehr Tradition.

„Minimalisierung des Minimums“…

…unter diesem Titel nimmt Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung Stellung zu einem Urteil des Sozialgerichts in Gotha, das die Kürzung bei Arbeitslosengeld II im Falle von Pflichtverstößen für verfassungswidrig erklärt hatte. Nun muss das Bundesverfassungsgericht prüfen, wie es sich mit dem Sanktionsregime verhält. Doch was kann eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bringen?

Selbst wenn die Verfassungswidrigkeit festgestellt würde, wer wäre zum Handeln aufgefordert, um die Missstände zu ändern? Das Parlament natürlich, denn nur es kann ein Gesetz ändern und ein neues verabschieden. Die Verfassung schwebt nicht über dem politischen Souverän, sie ist eine Richtschnur, kein ehernes Gesetz. Zum Glück ist das so, sonst wäre das Parlament überflüssig und tatsächlich nur eine „Schwatzbude“, zu der manche es schon erklärt haben. Ist das Bundesverfassungsgericht also, auch wenn dieser Weg in Deutschland gerne beschritten wird, der richtige Adressat, um eine solche Frage wie die der Sanktionen zu klären? Es geht dabei doch darum, was politische Souveränität ist, und die wird nicht durch ein Gericht hergestellt, sie wird lediglich durch Recht geschützt. Wenn aber diese Souveränität keinen Rückhalt im Selbstverständnis der Bürger hat – da helfen alle Verweise auf das Grundgesetz nichts -, was ist die Verfassung dann wert? Wenn eine Mehrheit das Sanktionsregime trägt, und sei es nur durch passive Duldung, dann sagt sein Fortbestehen etwas darüber aus, wie wir zueinander als Bürger stehen. Was würde eine Beseitigung des Sanktionsregmies (das es auch vor der Agenda 2010 gab) per Gerichtsentscheid erreichen, wenn der Geist davon weiterhin wirkte? Dasselbe gilt umgekehrt für den Fall, dass das BVerfG das Sanktionsregime für verfassungsgemäß erklärt. Was folgt daraus? Wäre dann alles gut, weil das BVerfG so entschieden und die Verfassungskonformität erklärt hätte? Udo di Fabio, ehemaliger Richter am BVerfG, hat sich zu dieser Überhöhung geäußert und sie mit dem nicht gerade starken Vertrauen in die politische Kompromißbildung erklärt (siehe hier).

Die entscheidende Veränderung ist nur politisch zu erreichen, durch öffentliche Auseinandersetzung, also öffentliche Willensbildung. Wem daran liegt, dass sich die Bürger als Bürger begreifen und begegnen, das Bürgerethos leben oder entwickeln, das für eine lebendige Demokratie notwendig ist, der muss auf eine politische Entscheidung hinwirken, nicht auf eine juristische. Eine Verfassung kann kein Bürgerethos hervorbringen, sie kann es allenfalls schützen oder in ihr kann es zum Ausdruck kommen. Wie wir miteinander umgehen und leben, ist eine Frage der Selbstbestimmung. Die Politikwissenschaftlerin Ingeborg Maus hat dieser Frage interessante Überlegungen gewidmet. 

Zu einem BGE, um diesen Bogen zu schlagen, wird es nur durch Willensbildung kommen, nur dann wird es den Rückhalt haben, den es braucht. Ganz gleich, was das BVerfG entscheidet.

Sascha Liebermann