„Eltern mit Doppelkarrieren: Am Rande der Erschöpfung“ – erst durch die Pandemie oder schon davor unrealistisch?

Nadine Bös (Bezahlschranke) schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung darüber und es erscheint, als sei das eine geradezu durch die Pandemie erzwungene Erkenntnis, dass Vollerwerbstätigkeit beider Eltern und Familienleben nicht zugleich möglich sind. Auch wenn hier der Aufhänger Schul- und Kitaschließungen in der Pandemie sind, so wird der Blick auf die Zeit davor verklärt, denn Vollerwerbstätigkeit erfordert Ganztragsbetreuung außer Haus, die für Familienleben nicht allzuviel Zeit übrig lässt – eben die Randzeiten des Erwerbsarbeitstages. Das gilt um so mehr, wenn, wie in dem Beitrag, die Eltern noch Leitungspositionen innehaben, die mit einer geregelten 40-Stundenwoche erst recht nicht zu haben sind. So können sich diese Paare, die Erziehungsaufgaben „zur Hälfte“ teilen, die noch übrigbleiben.

Eine kleine Überschlagsrechnung veranschaulicht, worum es geht. Gehen wir von einer 40-Stunden-Woche aus, dann heißt das pro Tag acht Stunden Arbeitszeit, etwa eine Stunde Pause und insgesamt eine Stunde An- und Abfahrtszeit, macht in der Summe 10 Stunden. Bring- und Abholzeit zu Schule oder Kita kämen noch dazu, auch etwa eine Stunde. Um das zu schaffen, müssen Eltern gegen 7.30 Uhr aus dem Haus gehen, um gegen 18.30 Uhr samt Kindern wieder zuhause zu sein. Im Fall des Artikels müssen eher höhere Arbeitszeiten veranschlagt werden, also legen wir noch eine Stunde oder zwei oben drauf bzw. verlagern sie auf das Wochenende. Das Familienleben reduziert sich auf Frühstück und Abendessen sowie das Schlafengehen. Vom Tag der Kinder nichts mitzubekommen heißt auch, wenig davon mitzubekommen, was sie beschäftigt, wie sie sich verändern, schon gar nicht kann man miteinander vertraut werden. Wo sollen gemeinsame Erfahrungen hier noch Raum haben? Genau dies fördert die erzwungene Zeit miteinander jedoch ebenso zutage.

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„…Und das geschieht […] vor allem über mehr eigene Zeit…“ – aber was heißt das genau und weshalb in der „Arbeitswelt“?

Selbst wenn Vollzeiterwerbstätigkeit einmal hieße, nur mehr 30 Stunden in der Woche erwerbstätig zu sein, so sind das inklusive An- und Abfahrtszeit von jeweils einer halben Stunde noch immer sieben Stunden pro Tag, die dafür aufgewandt werden müssten. Bei 35 Stunden in der Woche wären es schon acht oder 9 am Tag, weil eine Mittagspause nötig wäre. Wir reden nicht von all denen, die längere An- und Abfahrtswege haben. Würde denn selbst die 30-Stunden-Woche etwas an der Kollision zwischen den Aufgaben von Elternschaft oder anderen Sorgetätigkeiten und der Erwerbssphäre ändern? Es führte lediglich zu einer gewissen Verschiebung, die Nachrangigkeit ersterer gegenüber Erwerbstätigkeit würde fortbestehen, solange es keine grundsätzliche Alternative gäbe. Weil es ein unauflösliches Spannungsverhältnis zwischen der einen und der anderen Sphäre ist, wäre es am besten, die Ausgestaltung grundsätzlich denjenigen zu überlassen, die sie verantworten und das für sie passende Verhältnis dazu finden müssen – also die Eltern selbst bzw. diejenigen, die Sorgetätigkeiten übernehmen (ich meine hier nicht entsprechende Dienstleistungen). Es ist eben nicht einfach eine Frage der Organisation, um die es dabei geht, sondern eine Frage der Anerkennung und des Auslebens eines besonderen Beziehungsgefüges, das es in der „Arbeitswelt“ so nicht gibt.

Sascha Liebermann

Neunter Familienbericht vorgestellt, eine Fortsetzung des Achten – Erwerbstätigkeit als Lösung für beinahe alles

Gestern ist der „Neunte Familienbericht“ der Bundesregierung vorgestellt worden, bislang liegt er nur in einer Kurzfassung vor, so dass dieser Kommentar hier vorläufig ist und sich auf eine Zeitungsmeldung bezieht. Die Frankfurter Allgemeinen Zeitung schreibt dazu:

„Neben monetären Leistungen wie etwa einer eigenständigen Grundsicherung für Kinder fordern die sieben Wissenschaftler die substantielle Beteiligung beider Elternteile am Erwerbsleben gezielt zu fördern. Die Corona-Krise habe gezeigt, wie schnell ein Elternteil unerwartet den Job beziehungsweise Aufträge verlieren könne oder von Kurzarbeit betroffen sei. Die meisten Väter arbeiten in Vollzeit weiter, während Mütter in Teilzeit gehen.“

Diese Empfehlung entspricht der Sozialpolitik der vergangenen zwei Jahrzehnte ohnehin, wird doch Erwerbstätigkeit und die Steigerung der Erwerbsquote bei Frauen für das entscheidende Instrument gehalten, um auch Altersarmut vorzubeugen.

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Fehlt nur noch die Garantie, dass „beide Elternteile“ die Möglichkeit haben, für ihre Kinder da sein zu können – also BGE

Siehe weitere Beiträge unsererseits zu dieser Frage hier.

Sascha Liebermann

„…dringend neue Konzepte“ nötig – „Carearbeit“ lässt sich im Ansehen nur verbessern, wenn sie ernst genommen wird, dazu ist ein BGE nötig

Siehe unsere Beiträge dazu hier und hier.

Sascha Liebermann

„Der Mensch kann nicht irgendein Leben führen, sondern nur sein eigenes“ – Entwicklungsforscher Remo Largo ist verstorben…

…darüber berichteten verschiedene Tageszeitungen, ein differenzierter Nachruf findet sich in der Neuen Zürcher Zeitung hier, eine persönlichere Würdigung von Linard Bardill findet sich im tagblatt. Das letzte oder eines der letzten Interviews ist in der Basler Zeitung veröffentlicht worden, siehe hier. Verschiedene Vorträge Largos wurden aufgezeichnet (siehe hier), ein im vergangenen Juni ausgestrahlter Beitrag der teleakademie des SWR über „Normale Entwicklungskrisen bei Kindern“ findet sich hier.

Weshalb soll hier ein kurzer Blick auf Largos Forschung und seine Thesen geworfen (unsere Beiträge dazu hier) werden, wo wir doch sonst nur Beiträge publizieren, die im weitesten Sinne mit einem Bedingungslosen Grundeinkommen zusammenhängen?

Der Grund dafür ist schnell benannt: Largo hat sich, als Entwicklungsforscher und Arzt, mit Fragen beschäftigt, die ins Zentrum eines Bedingungslosen Grundeinkommens führen, weil sie sich mit den Entwicklungsprozessen vom Säugling bis zum Erwachsenen (Ontogenese) befassen. Sie sind das Fundament für alle späteren Fähigkeiten, das Verhältnis zu Individualität und Gemeinschaft, gelebte Autonomie, Leistungsbereitschaft usw.

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„Alle sind verzichtbar, selbst Männer“ – weshalb dann nicht weitergehen?

Margarete Stokowski schreibt im Spiegel über das vorherrschende Verständnis von Erwerbsarbeit und die Befürchtungen, die entstehen, wenn wieder einmal die Frage nach einer Arbeitszeitverkürzung ins Spiel gebracht wird. So berechtigt ihre Kritik an vielen Stellen ist, so kurzsichtig ist sie doch, wenn es um die Frage geht, was denn nun eine Arbeitszeitverkürzung allgemeiner Art bedeute. Sie rüttelt ja keineswegs an der Erwerbsverpflichtung auch von Eltern, so dass also der eine Tag, der gewonnen würde im Vergleich zu heute, wenn wir die Vier-Tage-Woche als Bezugspunkt für die Diskussion wählen, recht wenig ist. Bei normaler Vollzeit wäre man immer noch die meiste Zeit des Wachlebens abwesend von Familie und Kindern, die Kinder die meiste Zeit in einer Kita. Der Verweis auf Schweden, wo die Väter relativ mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen, wird leider ohne Erwähnung der ausgeprägten Ganztagsbetreuung eingeführt.

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Hilft neuer „Standard für Vollzeit“ von 30 bis 35 Stunden weiter?

Sonja Bastin scheint sich dessen sicher, in einem Dossier des entsprechenden Bundesministeriums (BMFSFJ) taucht der Vorschlag ebenfalls auf (S. 51), unter dem Stichwort Arbeitszeitmodelle ist er immer wieder einmal verhandelt worden. Würde der Vorschlag hier wirklich weiterhelfen in der Frage, wie Familie und Berufsleben überein gebracht werden könnten oder weicht er nur der Nicht-Vereinbarkeit aus?

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„…nach der Schule direkt nach Hause…“ – durch ein BGE wäre das noch einfacher

Treffende Kritik – wie aber zu einer Lösung gelangen?

Und wie könnte Familie der Platz bzw. der Status geschaffen werden, damit sie tatsächlich als eigenständiges Sozialgebilde auch Anerkennung findet? Das geht nicht durch Arbeitszeitmodelle, die das Einkommen doch wieder an Erwerbstätigkeit knüpfen, wenn auch an einen reduzierten Umfang, denn selbst da bliebe der normative Vorrang von Erwerbstätigkeit bestehen. Eltern wiederum zu entlohnen, saugte das Beziehungsgefüge in die Erwerbslogik hinein. Was bleibt? Ich sehe nur einen Weg: ein Bedingungsloses Grundeinkommen in ausreichender Höhe. Dann ließen sich Sorgetätigkeiten, die auf der Besonderheit persönlicher Nahbeziehungen (also diffusen Sozialbeziehungen) beruhen, ebenso einfach übernehmen, wie sie eine Professionalisierung von Sorgetätigkeiten als spezifische Dienstleistung unterstützten.

Siehe auch Beiträge zur „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ und „unbezahlter Arbeit“.

Sascha Liebermann