„Viele werden abgehängt“ und Halbgares zu einem Bedingungslosen Grundeinkommen

Ein sehr ausführliches Gespräch mit Stefan Sell in Deutschlandfunk Kultur über Folgen der Coronakrise, über ein Bedingungsloses Grundeinkommen sowie das Pilotprojekt dazu, ist Anlass hier einige Passagen zu kommentieren. Frühere Kommentare von unserer Seite zu Stefan Sells Ansichten zum BGE finden Sie hier.

„Deutschlandfunk Kultur: Seit langem wird ja auch schon darüber diskutiert: Sollte es Sanktionen geben? Sollte das Existenzminimum gekürzt werden? In diesen Tagen verstärkt sich eine Diskussion, ob man da nicht grundsätzlich umsteuern muss – Stichwort „bedingungsloses Grundeinkommen“, also ein Grundeinkommen für alle ohne Bedingungen, ohne Sanktionen, ohne Einkommensprüfung. – Würden Sie das befürworten, dass das bedingungslose Grundeinkommen nochmal genauer unter die Lupe genommen wird?
Sell: Also, ich würde auch hier eine Kompromissposition versuchen zu formulieren. Es wurde ja schon mal in einem Land, was auch sehr wohlhabend ist, darüber abgestimmt, ob so etwas eingeführt werden soll. Im Juli 2016 gab es eine Volksabstimmung in der Schweiz. Ich erinnere mich noch sehr gut an den Abend. 23 Prozent, das waren überraschend viele, haben dafür gestimmt, die große Mehrheit dagegen. Und dann wurden Leute befragt nach der Abstimmung, warum sie dagegen gestimmt haben. Da ist mir ein Satz in Erinnerung geblieben. Da hat einer gesagt: „Ja, er hätte da natürlich dagegen gestimmt, weil, die Zeit ist noch nicht reif.“ – Der Man ist pragmatisch gewesen. Der hat erkannt, dass in der jetzigen Situation ein Systemwechsel zum bedingungslosen Grundeinkommen aus vielerlei Hinsicht, nicht nur, was die Finanzierung angeht, sondern auch, was die bestehenden sozialen Sicherungssysteme angeht, schwer bis überhaupt nicht umsetzbar ist.“

Was will Sell hiermit sagen? Selbstverständlich ist etwas politisch nicht umsetzbar, für das es keine Mehrheiten gibt, das ist banal. Dass die Zeit noch nicht reif sei, wie ein Befragter hier zitiert wird, gibt genau das wieder, in seinen(!) Augen ist sie nicht reif. Damit fehlt die entscheidende Basis für eine Einführung. Heißt das aber auch, dass es grundsätzlich nicht möglich wäre, weil, abgesehen von den Mehrheiten, entscheidende Voraussetzungen fehlten? Auch die Einführung der Sozialversicherungen unter Bismarck war nicht möglich, bevor der Wille dazu da war, sie einzuführen. Betrachtet man die Sozialversicherungssysteme und setzt das BGE dazu ins Verhältnis, so könnte es in diese hineinwachsen. Nehmen wir als Bsp. die Rentenansprüche: sie müssen nicht aus der Rentenversicherung alleine bedient werden, wenn der Gesetzgeber das entsprechend definiert. Ein anderes Beispiel sei genannt: Grundfreibeträge in der Einkommensteuer und Grundsicherung leiten sich aus derselben Legitimationsquelle ab, der Verpflichtung zu Existenzsicherung. Weshalb sollte es nicht möglich sein, dieses Existenzminimum einfach auszuzahlen, statt es unter Vorbehalten bereitzustellen? Entsprechend fragt der Journalist zurück:

„Deutschlandfunk Kultur: Warum?
Sell: Weil sozusagen sie enorme Finanzvolumina aufbringen müssten zur Finanzierung dieses Instruments und man nicht argumentieren kann, wie viele Befürworter: „Ja, wir geben doch schon eine Billion Euro für Sozialleistungen aus, dann schichtet man das einfach um“. Da sind die ganzen Krankenversicherungsleistungen, die Pflegeversicherung, die Hilfe für mehrfach Schwerstbehinderte drin. Da sind ganz viele Leistungen, auf die wir doch wohl nicht verzichten wollen. Ansonsten wäre das ja ein gigantisches Verarmungsprogramm. Das heißt, wir bräuchten enorme Finanzvolumina, von denen ich nicht sehe, wo und wie sie von wem organisiert werden sollen.“

Dass die Finanzierung nicht mit dem Hinweis auf das Sozialbudget beantwortet werden kann, ist doch schon lange klar, wer vertritt denn eine solche einfache Rechnung noch? Dass mancher, der sich nicht eingehender mit der Thematik befasst hat, solche Vorschläge anbringt, ist nachvollziehbar. Aber sie als Maßstab für die Diskussion heranzuziehen, überrascht doch ein wenig. Schon im Transfergrenzenmodell wurde anders gerechnet. Letztlich ist als Bezugsgröße das Volkseinkommen entscheidend. Ob, bei allen rechnerischen Möglichkeiten, ein BGE einmal gewollt wird, ist damit natürlich überhaupt nicht gesagt, doch die Finanzierungsfrage als Elementareinwand vorzubringen, geht in meinen Augen an den entscheidenden Fragen vorbei. Wir organisieren doch heute schon enorme „Finanzvolumina“, wir organisieren auch die Grundfreibeträge in der Einkommensteuer, weshalb sollte das nicht möglich sein? Es ist eine Willensfrage und – wenn Sell das vor Augen hat – gilt, wo kein Wille ist, ist auch kein Weg.

„Deutschlandfunk Kultur: Jetzt sagen viele, Herr Professor Sell: „Auf lange Sicht ist der sozialversicherungspflichtige Job in Vollzeit, vierzig Jahre lang“ nicht mehr unbedingt das Maß der Dinge. Gerade durch die Digitalisierung kommen auch flüchtigere Arbeitsverhältnisse auf uns zu – ohne soziale Absicherung. Müssen wir da nicht darüber nachdenken, ob unser soziales System noch die Zukunft ist oder ob wir da nicht doch über ein steuerfinanziertes Grundfinanzierungsmodell nachdenken müssen.
[…]
Sell: Nein. Aber man muss, glaube ich, auch bei aller Berechtigung darüber nachzudenken, welchen Formenwandel gibt es, auch zur Kenntnis nehmen, dass wir in den vergangenen Jahren trotz der Digitalisierung, Roboterisierung eben nicht diese Beschäftigungseinbrüche hatten. Was wir haben, und das ist mein Punkt, der mich eher umtreibt, ist: Wir haben nicht weniger Beschäftigung, auch weniger bezahlte Beschäftigung, aber wir haben einen Formenwandel, der höchst bedenklich ist, innerhalb der Beschäftigung. Wir haben nämlich neben einem tatsächlich starken Wachstum auch bei den gut bezahlten Jobs in der Industrie, in der öffentlichen Verwaltung und so weiter, eben diesen starken Anstieg gerade im Dienstleistungsbereich und darunter gerade bei sehr, sehr wichtigen Dienstleistungsberufen, nicht nur Pflege und Betreuung, sondern auch Lkw-Fahrer, Verkäuferinnen und so weiter, wo die Menschen, die dort arbeiten, abgehängt worden sind von der recht guten Arbeitsmarkt- und Lohnentwicklung. – Das müssen wir korrigieren. Sozusagen da müssen wir wieder zu einer deutlichen Aufwertung der Entlohnung, aber auch der Arbeitsbedingungen in diesem unteren Bereich kommen. Ich glaube, dass mit diesem gezielten Ansatz mehr gewonnen würde…“

Ob nun es Beschäftigungseinbrüche in stärkerem Ausmaß gegeben hätte, wenn offensiver und weniger ängstlich über Automatisierung diskutiert würde, lässt sich aus der von Sell genannten Entwicklung nicht schließen. Bedenkt man alleine die technischen Einsatzmöglichkeiten fahrerloser U-Bahnen, automatisierter Kassensysteme usw. dann sind es offenbar nicht technische Möglichkeiten, die den Einsatz hemmen (siehe dazu auch hier). Ein BGE ist vollkommen unabhängig von der Arbeitsmarktentwicklung, auch wenn diese Verknüpfung immer wieder auftaucht. Gerade das von Sell hier am Ende benannte Phänomen spräche dafür, die Verhandlungsmacht von Arbeitnehmern auf eine Weise zu stärken, die grundsätzlich und unabhängig von Vertragskonstellationen ist. Darüber hinaus kann es dann immer noch tarifvertragliche oder sonstige Vereinbarungen geben. Der von Sell favorisierte Ansatz leistet darüber hinaus für all diejenigen nichts, die in keinem Erwerbsverhältnis stehen und auch nicht indirekt davon abhängen. Es führt auch zu keiner wirklichen strukturellen Anerkennung von Haushaltstätigkeiten.

Weiter geht es im Interview:

„[Sell] Das ändert aber nichts daran, dass ich unabhängig davon der Meinung bin, dass das von Ihnen angesprochene Ziel, die soziale Sicherung in unserem Land generell ein Stück weit oder stärker wegzunehmen von der reinen Anbindung an Arbeit und vor allem an Lohnarbeit und dann auch noch begrenzt bis zur Beitragsbemessungsgrenze, dass das ein richtiger Ansatz ist – spätestens angesichts der steigenden Zahl an altersarmen Rentnern im unteren Bereich, die also unterdurchschnittlich verdient haben ihr Leben lang. Da wird sich von alleine die Notwendigkeit einer stärker steuerfinanzierten Sicherung stellen.

Da kann man dann Grundgedanken des bedingungslosen Grundeinkommens, nämlich eine gewisse Armutsfestigkeit der Absicherung, nutzen, um gezielt in unserem bestehenden System zu verbessern.“

Das überrascht nun an dieser Stelle, öffnet aber den Weg dafür, ein BGE in die bestehenden Systeme hineinzukonstruieren und die Folgen, die das hätte, zu erwägen. Wäre ein BGE einmal eingeführt, stellten sich die heute bereitgestellten Leistungen in den Sozialgesetzbüchern anders dar.

Und hier noch einmal zur Rentenversicherung:

„Wir hatten das in den 80er-Jahren, denken Sie an Biedenkopf, der hatte auch eine steuerfinanzierte Grundrente vorgeschlagen, aber hat dann darauf hingewiesen: Der Preis dafür wäre dann, die bestehende Rentenversicherung abzuschaffen. Das müssten Sie auch machen. Nur, das Problem ist, was viele nicht sagen oder nicht wissen: Selbst wenn wir diese Entscheidung treffen würden, Herr Schröder, haben wir vierzig, fünfzig Jahre Übergangszeit. Denn all die Ansprüche, die die Menschen hier auf die gesetzliche Rentenversicherung sich erarbeitet haben im Beitragssystem, müssen in den nächsten vierzig, fünfzig Jahren refinanziert werden. Das heißt, wir haben eine Doppelbelastungsstruktur.“

Das widerspricht einem BGE aber gar nicht. Es wäre denkbar, Rentenversicherungsansprüche auch mittels eines BGE zu bedienen, was darüber hinaus geht, würde darüber hinausgehen. Die Rentenversicherung müsste auch nicht abgeschafft werden, ihre Bedeutung würde jedoch sinken, wenn es ein BGE gäbe. Nehmen wir ein Bsp.: Jemand hat RV-Ansprüche in der Höhe von 1300 Euro erworben (überdurchschnittlich heute), dann würden, sofern ein BGE 1200 Euro betrüge, der Anteil von 1200 Euro über das BGE gedeckt, der darüber hinausgehende Anteil von der RV. Das ließe sich beliebig kombinieren. Alle, die heute eine Rente unterhalb von 1200 Euro beziehen, hätten gewonnen. Die Finanzierungsfrage ist eben auch eine Teilungsfrage bezogen auf das Volkseinkommen.

Dann kommt noch eine Passage zum jüngst vorgestellten Pilotprojekt:

„Deutschlandfunk Kultur: Herr Professor Sell, jetzt gibt es dieses Projekt. 120 Menschen bekommen 1.200 Euro Grundeinkommen. Das DIW und andere Wissenschaftler wollen erforschen, welche Wirkung das hat. Wenn ich Sie richtig verstehe, kann man sich diese Studie sparen.
Sell: Ja, also. Stellen Sie einfach die Frage: Was werden wir wissen nach diesen drei Jahren? Wir werden wissen, dass vielleicht viele der Teilnehmer sich besser fühlen, weil sie sich sicherer fühlen, weil sie eine andere Einkommensquelle noch zusätzlich haben. Ja. Aber wir werden definitiv bei dieser Anlage dieses Versuchs nicht herausbekommen, wie ein bedingungsloses Grundeinkommen wirklich wirken würde. Dazu müssten Sie tatsächlich einen Systemwechsel machen in einer Region. Sie müssten alle Komponenten, die mit einem bedingungslosen Grundeinkommen verbunden werden, die müssten Sie in einem Experiment simulieren. Dann müssten eben dann auch die anderen Leistungen eingestellt werden. Jeder müsste das bekommen in dieser Region.“

Das würde ich auch so einschätzen und noch darüber hinausgehen. Selbst wenn es in einer Region stattfände, würde das nicht einem allgemeinen BGE für alle in einem Gemeinwesen entsprechen. Was das Pilotprojekt in Augen derjenigen, die es wissenschaftlich begleiten, leisten könne und was nicht, hat Jürgen Schupp hier dargelegt.

Sascha Liebermann