„…und keiner hat mehr einen Anreiz, dafür zu sorgen, dass diese Menschen jemals aus diesem prekären Einkommenssegment entkommen…“

Ein Gespräch zwischen Anke Hassel (Hertie School of Governance/ WSI Hans Böckler Stiftung) und Thomas Straubhaar (Universität Hamburg) in der Wirtschaftswoche (siehe auch dieses Interview mit Anke Hassel) unter dem Titel „Bedingungsloses Grundeinkommen. Geld für gar nichts?“. Meine früheren Kommentare zur Haltung von Anke Hassel zum BGE finden Sie hier. Zu Thomas Straubhaars Argumentation habe ich mich ebenso wiederholt geäußert, siehe hier. Es ist nicht allzulange her, dass er die Hartz-Reformen gelobt hat, siehe hier. Damals sagte Straubhaar z. B. folgendes:

„Viele Komponenten der Hartz-Gesetze haben sich als reine Luftnummern erwiesen und haben viel Geld gekostet. Aber entscheidend war der Mentalitätswechsel, der durch die kürzeren Bezugszeiten von Arbeitslosengeld befördert wurde. Dadurch stieg für viele Menschen der Druck, sich rasch nach einer neuen Arbeit umzuschauen, weil sonst sehr schnell Hartz-IV-Verhältnisse drohen.“

Mit seiner Argumentation für ein BGE heute passt das überhaupt nicht mehr zusammen. Was ist denn der Erfolg einer solchen Politik des Drucks, die er mittlerweile nicht für förderlich hält? Das Gespräch stammt aus dem Jahr 2012, womöglich ist ein „Ruck“ durch ihn gegangen. Und damals lagen schon lange die Befunde dazu vor, ob der Bezug von Arbeitslosengeld oder vergleichbaren Leistungen, Menschen davon abhält, den Bezug wieder zu verlassen, siehe hier.

Nun zum Gespräch mit Anke Hassel in der Wirtschaftswoche. Ob es Missverständnisse oder willentliche Entstellungen der differenzierten Argumente für ein BGE sind, dass Anke Hassel folgendes sagt?

„Hassel: Nein, denn dadurch [durch ein BGE, SL] würden ja alle sozialen Sicherungssysteme wegfallen. Das wäre ein fataler Fehler. Wir würden alles dem Einzelnen oder dem Markt überlassen, also den privaten Kranken- und Rentenversicherungen. Doch das sind keine Solidargemeinschaften. Das wäre ein Rückschritt in unserer Entwicklung des Wohlfahrtsstaates. Stattdessen hätten wir eine Gießkanne, die über alle Menschen einen gewissen Geldbetrag ausschüttet.“

Straubhaar reagiert darauf und weist auf die Ineffizienz des heutigen Systems sozialer Sicherung hin, wenn es um die Einkommenssicherung geht. Der Vorwurf, es werde mit der Gießkanne Geld verteilt, kann ja gar keiner sein, weil das BGE gerade, weil es „mit der Gießkanne“ auf alle verteilt wird, eine Einkommenssicherheit über die gesammte Lebensspanne verschafft. Bedarfsgeprüfte Leistungen müssen ja fortbestehen, wenn der Zweck eines BGE, die Handlungsmöglichkeiten zu erweitern, für alle auch erreicht werden können soll.

Oder dies:

„Hassel: Ich habe überhaupt nichts dagegen, Kapitaleinkommen höher zu besteuern. Womit ich ein Problem habe, ist die Grundannahme, dass wir Beschäftigung verlieren. Die Arbeit wird uns nicht ausgehen. Wir haben den höchsten Beschäftigungsstand seit 25 Jahren. Mit dem Grundeinkommen gäbe es eine Gruppe, die nicht mehr am Erwerbsleben teilnehmen würde. Das wäre ein Nachteil für die soziale Mobilität in diesem Land.“

In der Diskussion um „das Ende der Arbeit“, die in der Digitalisierungsdebatte eine Neuauflage erhält, ist es nicht weniger seriös, wenn Hassel nun der Digitalisierungseuphorie entgegenhält, das alles mehr oder weniger beim Alten bleibt. Dass hier so ohne Vorbehalt der Beschäftigungsstand gefeiert wird, überrascht ebenso, siehe hier. Soziale Mobilität scheint nur dann zu bestehen, wenn ein Einkommensaufstieg angestrebt wird, weshalb? Könnte diese Mobilität nicht ebenso darin bestehen, sich anderweitig zu engagieren? Diese Mobilität wäre dann nicht eine, die in Einkommen, sondern in Erfahrung gemessen wird. Und weshalb ist soziale Mobilität überhaupt ein Selbstzweck? Wir schreiben auch heute niemandem vor, dass er sozial mobil zu sein hat. Wenn er es will, ist das eine andere Sache.

Weiter sagt sie:

„Hassel: Das leuchtet mir überhaupt nicht ein. Wenn Sie allen ein Grundeinkommen geben von einer Summe, die unter der Armutsgrenze liegt, kann jeder Arbeitgeber sagen: Du hast dein Grundeinkommen, also kannst du günstiger bei mir arbeiten. Wer heute für zwölf Euro arbeitet, würde dies künftig vielleicht noch für 4,50 Euro tun. Menschen, die unter unanständigen Bedingungen arbeiten, stünden in Konkurrenz zu Robotern. Und dass dann die Mehrheit der Betroffenen sagt: Super, dann gehe ich meinen Neigungen nach, das ist doch völlig unrealistisch.“

In dieser Passage kommen mehrere Dinge zusammen. Ein zu niedriges BGE hätte in der Tat andere Auswirkungen als ein auskömmliches. Weshalb es notwendig unter der Armutsgrenze sein sollte, ist hier nicht ersichtlich. Dass, wo verhandelt werden kann, die Löhne sich entwickeln, ist unbestritten und in der Tat, kann das BGE nicht einfach „oben drauf“ kommen, auch das ist richtig. Dennoch aber wäre es denkbar, dass die Einkommenssumme aus BGE und Lohn höher ausfällt als heute nur aus Lohn. Weshalb aber wäre das ein Problem, wenn der Einzelne nicht gezwungen werden könnte, Arbeitsbedingungen anzunehmen? Auch in der BGE-Welt wäre es möglich, für eine angebotene Leistung keine Nachfrage zu finden, derjenigen wäre dann lediglich nachfrage-, aber nicht BGE-los. Im Unterschied zu heute verfügte er über ein nicht-stigmatisierendes Einkommen von der Wiege bis zur Bahre. Das ist ein erheblicher Unterschied zur gegenwärtigen Lage.

Deutlich wird der Kontrast zwischen Anke Hassel und Straubhaar in der folgenden Passage:

Hassel: Das ist eine Stilllegeprämie für alle, die in diesem Segment tätig sind. Die gehen dann vielleicht noch für drei Euro arbeiten, sind versorgt – und keiner hat mehr einen Anreiz, dafür zu sorgen, dass diese Menschen jemals aus diesem prekären Einkommenssegment entkommen. So wie es heute auch schon ist.“

Sie sieht nicht, dass das BGE „diese Menschen“ ja überhaupt einmal ernst nimmt und ihnen eine Basis verschafft, die nicht abhängig ist von Erwerbstätigkeit. Heute haben sie die Basis doch gerade nicht. Darauf entgegnet Straubhaar:

„Straubhaar: Wer sich weiterbilden möchte, hat erst auf Basis des Grundeinkommens alle Freiheiten dazu. Die Betroffenen bleiben nicht so wie heute aus Existenzgründen am aktuellen Job kleben, nur weil sie sich eine Auszeit für Weiterbildung nicht leisten können.

Hassel: Es gibt doch jetzt schon viele Menschen, die in vergleichbaren materiellen Verhältnissen leben. Und da lässt sich nicht feststellen, dass die viel in Weiterbildung investieren. Das ist nicht realistisch.

Straubhaar: Weil es heute gerade für Menschen mit Existenzproblemen unmöglich ist, sich ein Jahr nicht mit Einkommensfragen herumschlagen zu müssen. Sie müssen bei Hartz IV jeden Job annehmen und können nicht argumentieren, dass sie sich gerade weiterbilden.“

Erstaunlich an dieser Passage ist, dass Frau Hassel die Handlungsmöglichkeiten auf Basis eines BGE gleichsetzt mit der heutigen Situation, so als kenne sie die stigmatisierenden Folgen gegenwärtiger Sozialpolitik nicht, als habe sie von der Sanktionspraxis der Jobcenter nicht gehört. Wer heute im Leistungsbezug nach dem Sozialgesetzbuch ist, sieht sich einem Machtgefüge gegenüber, demgegenüber er am kürzeren Hebel sitzt. Je weniger selbstbewußt jemand ist, desto weniger ist er in der Lage, seine Interessen zu vertreten.

Sascha Liebermann