Worum geht es bei der „Armutsfalle“?

Diese Frage wurde mir gestellt und zugleich darum gebeten, ob ich das kurz erläutern könne, da ich seit Jahren auf Forschungsergebnisse hinweise, die gezeigt haben, dass das „Theorem der Armutsfalle“, wie es Georg Vobruba einst bezeichnete, haltlos ist oder besser ausgedrückt: das worum es geht, wäre viel differenzierter zu betrachten. Da Vobruba den Kern der Sache gut auf den Punkt gebracht hat, sei er zitiert. In einem Kurzinterview aus dem Jahr 2003, das nach der Veröffentlichung der Studie zur Armutsfalle geführt, wurde, sagte er dazu folgendes:

„In der Standardökonomie wird die These von der Armutsfalle vertreten, die bedeutet: Wenn der Abstand zwischen Lohnersatzleistung und dem alternativ erzielbaren Lohn nicht groß genug ist – wobei man nie genau weiß, wie viel groß genug ist – dann bleiben die Leute in Sozialleistungsbezug bzw. Sozialhilfe und stehen dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung. Wenn dies wirklich so ist, so unsere Überlegung, dann müssten die individuellen Sozialhilfebezugsdauern sehr, sehr lang, virtuell unbegrenzt lang sein. Das ist die logische Schlussfolgerung. An dieser Stelle hören viele einfach mit dem Denken auf und sagen: So ist das […] Dass man zeigen kann – an einem schönen, forschungstechnisch überschaubaren und wichtigen Teilgebiet wie dem „Theorem der Armutsfalle“ -, dass sich Anreizstrukturen nicht eins zu eins in Handeln umsetzen. Dass eben Menschen über eine eigene Rationalität verfügen und dass all jene Theorieansätze, die Handeln auf irgendeine Schmalspurrationalität zurückführen, im Ansatz verkehrt sind. Will man wissen, wie Menschen handeln, muss man sie anschauen und ihnen nicht irgendwelche Handlungslogiken wie Kuckuckseier unterschieben. Das allerdings wird gern gemacht, in der Ökonomie sowieso und bei den Sozialwissenschaften gibt es auch gewisse Tendenzen.“

Zum Befund sagte er darüber hinaus:

„Und siehe da: Die überwiegende Anzahl der Sozialhilfeepisoden ist ziemlich kurz. Die Leute verlassen also das Sozialhilfesystem. Und das obwohl in der Tat in vielen Fällen der Abstand zwischen Lohn und Lohnersatzleistung nicht gerade groß ist. Anders gesagt: Die allermeisten Leute gehen auch dann arbeiten, wenn die zustehenden Lohnersatzleistungen relativ nah am beziehbaren Lohn liegen. Das haben wir in unserer Studie herausgefunden; und bisher habe ich keine entgegen lautende Untersuchung auf demselben Empirieniveau gesehen […] Bei „Warum“ fragt man am besten die Beteiligten selbst. Dabei haben wir eine Fülle von Motiven hervorgebracht. Und mein Eindruck ist – sofern man auf qualitativer Basis so was sagen kann: Ganz überwiegend wird mit Sozialhilfe rational umgegangen. Rational im Sinn der Lebensplanung, die die Menschen selbst haben.“

Hier argumentiert Vobruba in meinen Augen viel zu defensiv, womöglich, weil er mit qualitativen Verfahren nicht vertraut genug ist. Seine Projektmitarbeiter können anhand von Interviewausschnitten (hier würde ich mir eine noch viel detailliertere Analyse wünschen) zeigen, dass die Gründe dafür, weshalb jemand im Sozialhilfebezug war oder auch geblieben ist, mit dem „Lohnabstand“ nichts, mit vernünftigen Abwägungen zwischen der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit und anderen Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten viel zu tun hat. Erst wenn man – hier die Standardökonomie, aber durchaus auch die Soziologie -, wie Vobruba oben deutlich macht, den Menschen eine bestimmte Handlungslogik unterstellt, kann das Armutsfallentheorem ins Spiel gebracht werden. Der empirischen Überprüfung hält es nicht stand. Dabei ist nicht die Einsicht darein, dass die praktische Vernunft vielfältigen Gründen folgt, überraschend, überraschend ist vielmehr, wie ein Theorem in der wissenschaftlichen Debatte fortleben kann, das weder Hand noch Fuß hat. In Variationen tauchen die ihm unterliegenden Annahmen immer wieder in anderen Zusammenhängen auf, man denke nur an die Diskussion über das Ehegattensplitting.

Mehrere Beiträge, die aus der Studie berichten, finden Sie hier, zur Verwendung von „Anreiz“ siehe hier. Wie Vobruba diese Frage im Zusammenhang mit einem BGE einschätzt, siehe hier. Zur fortwährenden Frage, wer denn die „unangenehmen Tätigkeiten“ mache, siehe hier.

Sascha Liebermann