Modernisierung der „sozialen Marktwirtschaft“ oder Stärkung der Demokratie? Ein Interview mit Thomas Straubhaar in der Basler Zeitung

In diesem Interview mit Thomas Straubhaar in der Basler Zeitung erklärt er unter anderem, weshalb er die Volksinitiative zum Bedingungslosen Grundeinkommen in 2016 abgelehnt hat. Dazu sagt er:

„Erstens haben die Initianten über die Höhe geschwiegen. Das haben die Gegner des Grundeinkommens geschickt ausgenutzt, indem sie einen Betrag von 2500 Franken in den Raum stellten, der schlicht nicht ohne massive Steuererhöhungen möglich wäre. Und zweitens blieb die Frage nach der Finanzierung offen. Wird der bisherige Sozialstaat abgeschafft? Oder ergänzt das Grundeinkommen den Sozialstaat? Das sind entscheidende Fragen, die unbeantwortet blieben.“

Die Höhe des Betrags war damals aber nicht Gegenstand der Volksinitiative, er kursierte aus früheren Debatten in der Öffentlichkeit und wurde diesbezüglich aufgegriffen, auch in deutschen Medien. Was den zweiten Punkt betrifft, hatten die Initianten eine klare Haltung, das BGE sollte in die Sozialwerke hineinwachsen, sie also nicht vollständig ersetzen. Aber auch das war nicht Gegenstand der Volksinitiative.

Auf die Frage, weshalb er in Deutschland sich für ein BGE von 1000 Euro einsetze, antwortet er:

„Aus einem einfachen Grund: Der heutige Sozialstaat kostet jährlich rund 1000 Milliarden Euro. Verteilt man dieses Geld auf alle Einwohner, erhalten alle 1000 Euro pro Monat.“

Wenn er so rechnet, bedeutet das aber, dass es keine anderen Leistungen mehr geben wird, keine Krankenversicherung, keine bedarfsgeprüften Leistungen. Hierzu muss man zweierlei festhalten:
1) Wenn der Betrag tatsächlich pro Person in gleicher Höhe (Erwachsene wie Kinder) gedacht ist, dann könnte ein großer Teil heute bedarfsgeprüft gewährter Leistungen tatsächlich mit dem BGE schon gedeckt sein. Denn auf einen Haushalt bezogen kumulieren die BGE.
2) Die Frage wäre, wie es sich hier mit den Krankenversicherungsleistungen darstellte, würde das über eine Kopfpauschale abgedeckt und aus anderen Steuermitteln getragen? Die Pauschale dürfte dann aber nicht zu hoch sein, um das BGE nicht aufzuzehren.
3) Für Alleinstehende Personen verhält es sich ganz anders als für Haushalte
4) Für Personen, die hohe Aufwendungen haben, die heute über bedarfsgeprüfte Leistungen gedeckt werden, wäre es keine Lösung, sie würden das Nachsehen haben.

Auf Punkt 4) geht er an einer späteren Stelle ein und sagt:

„Das Grundeinkommen ist für Menschen mit einschneidenden Behinderungen wohl zu tief. Diesen Einzelfällen muss man zusätzliche Mittel [Hervorhebung SL] geben. Das hat den Nachteil, dass dann viele eine Einzelfallbehandlung fordern und es schwierig wird, eine faire Grenze zu ziehen, wie weit Behinderungen finanziell zu berücksichtigen sind.“

Also ersetzt das BGE doch nicht alles. Zugleich wird deutlich, dass es immer eine nur praktisch zu lösende Frage ist, welche Leistungen für angemessen gehalten werden.

Dass die Einführung eines BGE mit dem heutigen System verträglich ist, habe ich hier dargelegt: „Bedingungsloses Grundeinkommen und bedarfsgeprüfte Leistungen: entwirrt“. Es müssten nicht einmal die Sozialgesetzbücher geändert werden, weil mit der Einführung eines BGE die Ansprüche heutiger Bezieher von Transferleistungen, welcher Art auch immer, bis zur Höhe des BGE entfallen würden. Für Familien stellte sich das wiederum anders dar als für Alleinstehende.

Recht simpel ist das von Thomas Straubhaar ohne weitere Ausführungen vorausgesetzte Anreizmodell (siehe hier), als wirkten solche „Anreize“ unmittelbar, beinahe sozialmechanisch direkt. Dabei muss man keinen idealistischen oder besseren Menschen voraussetzen, um zu dem Schluss zu gelangen, dass ein BGE dennoch leistungsunterstützend wirken kann. Es sind nicht die „Anreize“, diese black box, die Menschen davon abhält und anspornt, etwas zum Wohlergehen des Gemeinwesens beizutragen. Es ist ihre Gemeinwohlbindung, die in der Regel wie selbstverständlich durch die Sozialisation gegeben ist, aber sehr wohl durch widrige Handlungsbedingungen beeinträchtigt werden kann. In differenzierteren Betrachtungen ist stets das Verhältnis von „Anreizen“ und „Präferenzen“ entscheidend, von denen die Auswirkungen der Anreize abhängig sind.

Interessant ist dann diese Frage des Interviewers:

„Aber das Grundeinkommen muss von jemandem finanziert werden, und der Staat holt sich diese Mittel notfalls mit Gewalt. Das ist für andere eine grobe Einschränkung der Freiheit.“

Der Staat wird  hier, Straubhaar bezeichnet es zurecht als libertäre Position, so behandelt, als könne es ihn auch nicht geben. Dass ist jedoch eine lediglich theoretische Position, keineswegs eine historisch relevante. Denn die Freiheit des Einzelnen existiert nicht ohne ein Gemeinwesen, dem er angehört. In archaischen Gesellschaften spielte Freiheit noch gar keine Rolle, in modernen erst gerade dort, wo dem Individuum ein relativer Eigenwert zugemessen wird. Es gibt kein gemeinschaftsloses Leben ohne Herrschaftsordnung, zu der der Staat gehört. Es muss erst von diesem Zusammenhang abstrahiert werden, um eine staatsloses Gemeinwesen zu postulieren, das ebenso existieren könne. Wie stark diese Vorstellung des Staates als nicht kontrollierbarem Agenten ist, hat sogar Andrea Nahles in ihrer Rede auf der re:publica im letzten Jahr gezeigt. Man hätte meinen können, Sie sei gar keine Bundesministerin gewesen, als sie dort geredet hat, sondern Anhängerin einer anarchistischen Bewegung. Stattdessen ist es angemessener den Staat als Moment des Gemeinwesens zu bezeichnen, der durch die Gemeinschaft der Bürger umgestaltet werden muss, wenn er ihr nicht zusagt.

Dass „den Linken“ ein BGE in Höhe zwischen 2000 und 3000 Euro vorschwebe, ist mir neu. Es gibt einen Vorschlag der BAG Grundeinkommen (Broschüre der BAG Grundeinkommen aus dem Jahr 2016, S. 31), der 1080 Euro für Erwachsene und für Kinder die Hälfte vorsieht, weit entfernt von den Beträgen, die Straubhaar nennt.

Interessant sind Straubhaars Überlegungen, wie es mit Personen wäre, die sich dauerhaft in Deutschland aufhalten (z. B. Asylberechtigte). Er beantwortet sie mit Blick auf die Schweiz:

„Eine weitere Frage ist, was mit Zugewanderten passiert, die der Schweiz oder Deutschland nach ein paar Jahren den Rücken kehren. Hier muss es eine Regel geben. Die Weiterbezahlung des Grundeinkommens an Personen, die im Ausland leben, muss an die vorherige Anwesenheitsdauer in der Schweiz gekoppelt werden. Nur wer länger als 30 Jahre hier gelebt hat, erhält etwas, und nur wer länger als 60 Jahre hier gelebt hat, erhält auch weiterhin das volle Grundeinkommen.“

Wie auch immer das in Deutschland gehandhabt würde, es muss eine Regelung geben.

Das Gemeinwesen als politische Vergemeinschaftung von Bürgern scheint für Straubhaar allerdings keine große Rolle zu spielen, er scheint es einfach vorauszusetzen, sieht jedoch nicht, dass ein BGE von dort aus begründet werden kann, ohne all die anderen Bezüge überhaupt herstellen zu müssen:

Viele Befürworter des Grundeinkommens sind Romantiker. Was sind Sie?
Ich will die alte Grundidee der sozialen Marktwirtschaft modernisieren. Zuerst sollten die Unternehmen so wirkungsvoll wie möglich das Sozialprodukt erwirtschaften, bevor es zur Umverteilung kommt. Der zweite Punkt ist, dass der Liberalismus nicht nur die Interessen der Kapitalisten vertreten sollte, er muss auch die Proletarier im Blick haben. Als Liberaler sollte man nicht «pro business» sein, sondern «pro market».

Die „soziale Marktwirtschaft“ ist eine schöne Idee, sozial aber ist nicht die Marktwirtschaft bzw. der Markt, sondern die durch eine politische Vergemeinschaftung gestaltete Verteilung von Einkommen, um Ungleichheiten, die der Markt hervorbringt, relativ auszugleichen. Da Straubhaar dies nicht für so bedeutend zu halten scheint, sieht er auch nicht, dass von der Warte eines politischen Gemeinwesens wie unserem aus zuerst einmal darum gehen muss, was aus der Stellung der Bürger in der Demokratie für den Sozialstaat folgt. Dasselbe gilt dann für das Wirtschaftsleben. Nicht umgekehrt.

Sascha Liebermann