« Das Agenda-Trauma »…

…ein Rückblick auf die Agenda 2010 und ihre Folgen auf Zeit Online, zugleich eine überraschend differenzierte Darstellung der Entwicklung des Niedriglohnsektors und seiner Vorgeschichte sowie des Arbeitsmarkts im Allgemeinen. Was die « Arbeitslosigkeit » betrifft allerdings fällt der Artikel ab im Vergleich zu diesem hier von Stefan Sell (hier, hier und hier). Keine Rede ist vom Arbeitsvolumen, das darüber Auskunft gibt, was denn die Zunahme an Erwerbstätigen tatsächlich bedeutet: eine starke Zunahme an Teilzeitarbeit. Zur These, das Arbeitslosengeld II habe den « Anreiz » zur Arbeitsaufnahme erhöht, sind die nachstehend aufgeführten Untersuchungen instruktiv, die zugleich das Armutsfallentheorem empirisch kritisieren:

Zur Kritik des Armutsfallentheorems (Ronald Gebauer und Hanna Petschauer)
Die Arbeitslosigkeitsfalle vor und nach der Hartz-Reform (Georg Vobruba und Sonja Fehr)
Fordern statt Fördern? – Nein! Wege aus Arbeitslosigkeit und Armut erleichtern (Ronald Gebauer)
Arbeit gegen Armut. Grundlagen, historische Genese und empirische Überprüfung des Armutsfallentheorems (Ronald Gebauer)

In diesen Untersuchungen wird herausgehoben, dass weniger die « Anreize », die das Lohnabstandsgebot setzen, dafür verantwortlich waren, dass Leistungsbezieher relativ schnell den Leistungsbezug wieder verließen, auch schon vor der Agenda 2010, sondern individuelle Handlungsmöglichkeiten und -fähigkeiten sowie die Qualität der Beratung im damaligen Arbeitsamt.

Siehe auch « Clemens Fuest (Ifo-Institut) über den „wirklichen Menschen… ».

Sascha Liebermann

Forscher empfehlen Entschärfung von Hartz-IV-Sanktionen – sprach denn je etwas dafür?

Report Mainz berichtete als erstes darüber, nun werden die Befunde einer Studie des Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) aufgegriffen – siehe Berliner Zeitung, neues deutschland – und die Aufhebung von Sanktionen im Sozialgesetzbuch gefordert. Dass die Studie neue Details zutagefördert, mag der Fall sein, doch aus dem IAB gab es schon früher Hinweise auf die Problematik, siehe hier und hier. Doch gab es denn je empirische Belege dafür, dass Sanktionen überhaupt etwas bewirken, geschweige denn die für die ihnen zugrundeliegende Behauptung einer Armutsfalle? Es haben sich schon früher Forscher mit dieser Behauptung beschäftigt und belegt, dass in der Realität ihr nichts entspricht. Hier sind einige Arbeiten, die sich mit dem Theorem beschäftigen:

Zur Kritik des Armutsfallentheorems (Ronald Gebauer und Hanna Petschauer)
Die Arbeitslosigkeitsfalle vor und nach der Hartz-Reform (Georg Vobruba und Sonja Fehr)
Fordern statt Fördern? – Nein! Wege aus Arbeitslosigkeit und Armut erleichtern (Ronald Gebauer)
Arbeit gegen Armut. Grundlagen, historische Genese und empirische Überprüfung des Armutsfallentheorems (Ronald Gebauer)

Wenn zwei Vertreter des Forscherteams im Gespräch in der Report-Sendung dann vorschlagen, man könnte ja positive Anreize schaffen, Belohnungen einsetzen, damit die Leistungsbezieher eine positive Erfahrung machen, es gehe darum, die « Menschen in Arbeit zu kriegen », dann kann man angesichts der Schlussfolgerungen nur staunen. Läge es angesichts der verschiedenen Forschungsergebnisse zum Armutsfallentheorem und zur Autonomie der Lebenspraxis – ganz abgesehen von den Voraussetzungen der Demokratie – nicht auf der Hand, den Bürgern mehr Vertrauen entgegenzubringen? Läge es nicht auf der Hand, einmal die Reichhaltigkeit alltäglicher Erfahrungen zuzulassen, die einen lehren, dass der Einzelne immer seinen Möglichkeiten entsprechend bemüht ist, sein Leben in die eigenen Hände zu nehmen? Was hält uns nur davon ab, sich dieser Realität ernsthaft zu stellen? Die Sanktionspraxis in der Sozialpolitik beruht vor allem auf Vorurteilen und empirisch nicht bestätigten Behauptungen.

Es ist an der Zeit, das einzugestehen. Selbstverständlich sollte es weiterhin Beratungsangebote geben, wenn es aber keine Sanktionsdrohungen, wenn es das Misstrauen nicht mehr gibt, gibt es auch manche Phänomene nicht mehr, mit denen wir es heute zu tun haben. Naiv allerdings ist in meinen Augen die Forderung, die Sanktionen abzuschaffen, ohne die Erwerbsverplichtung aufzugeben. Eine repressionsfreie Grundsicherung kann es im erwerbszentrierten Sozialstaat nicht geben, denn Sanktionen gehören zu ihm seitdem es ihn gibt. Also bleibt nur die Einführung eines Bedingungslosen Grundeinkommens, wenn diese Vorurteile einmal der Vergangenheit angehören können sollen.

Sascha Liebermann

« Kindergrundsicherung, bedingungsloses Grundeinkommen » – Eindrücke von der Anhörung

Am 27. Oktober fand die Anhörung zu einem Antrag der Fraktion der Piraten im Ausschuss für Familie, Kinder und Jugend des Landtags von Nordrhein-Westfalen statt. Den vorab einsehbaren Stellungnahmen einiger Sachverständiger, die geladen waren, konnte schon entnommen werden, woher der Wind weht: Anreize, Anreize, Anreize – Vereinbarkeit von Familie und Beruf – Bekämpfung von Kinderarmut durch den Ausbau von Betreuungsinfrastruktur, um Erwerbstätigkeit von Eltern zu fördern. Um die Eigenheiten von Familie und wie Eltern sich dieser Herausforderung am besten stellen könnten, ging es im Grunde kaum, denn die meisten Vorschläge zur « Bekämpfung » von Kinderarmut liefen darauf hinaus, die Erwerbschancen von Eltern zu stärken, nicht aber ihre Entscheidungsmöglichkeiten für ihre Kinder dazusein.

Dominik Enste vom Institut der deutschen Wirtschaft führte – wie schon im Juni – ein einprägsames Beispiel dafür an, was es mit der bedingungslosen Zuwendung in Familien auf sich hat. Auch die Hinwendung von Eltern sei nicht so bedingungslos, denn sie erwarteten als Gegenleistung für ihre Mühen eben doch eine Gegenleistung: das Lächeln des Säuglings. Das brachte er wieder in Zusammenhang mit der Gegenleistung für Hilfeleistungen des Gemeinwesens.

Aufschlussreich war auch seine Bemerkung, dass er den Eindruck habe, das BGE werde von Menschen gefordert, die ihre Produkte am Markt nicht loswürden, woraufhin Daniel Düngel, Ausschussmitglied für die Piratenfraktion, auf dm und das Engagement von Götz Werner hinwies. Dass ein Sachverständiger eine solch argumentationslose, herablassenden Bemerkung äußert, um einen Vorschlag wie das BGE als unseriös zu erklären, kann einen verwundern.

Eine wichtige Anmerkung sei abschließend noch gemacht. In der Anhörung, unter anderm von Herrn Enste, wurde das Armutsfallentheorem als Begründung dafür bemüht, weshalb ein BGE eine schlechte Idee sei. Dieses Theorem, das sehr verbreitet ist, aber einer empirischen Prüfung nicht standhält, besagt, dass zwischen Transferleistung und Lohn ein nennenswerter Abstand (Lohnabstandsgebot) gegeben sein müsse, damit Transferleistungbezieher einen « Anreiz » haben, den Leistungsbezug zu verlassen. Verschiedene Untersuchungen der dynamischen Armutsforschung haben sich einer empirischen Überprüfung des Theorems gewidmet. Sie konnten zeigen, dass es empirisch nicht gedeckt ist. Dennoch halten viele Wissenschaftler unbeirrt an ihm fest.

Einige Arbeiten, die sich mit dem Theorem beschäftigen:

Zur Kritik des Armutsfallentheorems (Ronald Gebauer und Hanna Petschauer)
Die Arbeitslosigkeitsfalle vor und nach der Hartz-Reform (Georg Vobruba und Sonja Fehr)
Fordern statt Fördern? – Nein! Wege aus Arbeitslosigkeit und Armut erleichtern (Ronald Gebauer)
Arbeit gegen Armut. Grundlagen, historische Genese und empirische Überprüfung des Armutsfallentheorems (Ronald Gebauer)

Das Protokoll der Ausschussitzung soll in den nächsten Monaten online verfügbar sein.

Sascha Liebermann