„Andauernde Abwesenheit von Selbstverständlichkeit“ und „lebensfeste Sozialhilfe“ – und das Erwerbsgebot?

„Andauernde Abwesenheit von Selbstverständlichkeit“ – eine gute Beschreibung für die Erfahrung des ständigen Mangels an Einkommen, formuliert von der Journalistin Anna Mayr, die ihre Geschichte im Buch „Die Elenden“ beschrieben hat. An einer Stelle sagt sie in der Talkrunde, dass ihre Eltern sie davor beschützt haben, ein Jobcenter „betreten“ zu müssen, wozu sie im Alter von 16 durch das Jobcenter aufgefordert wurde.

Sie spricht manches aus, was aus der Armuts- und Arbeitslosigkeitsforschung schon lange bekannt ist: die Stigmatisierung Erwerbsloser, das Sündenbockphänomen, die Verklärung individueller Möglichkeiten usw. Ein wenig irritiert, dass man nichts darüber erfährt, wie es dazu gekommen ist, dass sie unter Einkommensmangel litten. Für ihren Werdegang ist das ja nicht unerheblich und wichtig, um zu verstehen, wie sie aufgewachsen ist, denn immerhin haben ihre Eltern sich gegen die Anliegen des Jobcenters gewehrt und sie damit beschützt. An einer Stelle hält sie dem Plädoyer für Bildung, das ein Gast der Runde anstimmt, entgegen, dass man Bildung nicht essen könne: „Bildung hilft erst, wenn Familien genug Geld haben, um zu leben“. Als sich Luisa Neubauer einschaltet und die Diskussion um ein Bedingungsloses Grundeinkommen anführt, das ein menschenwürdiges Existenzminimum sichern solle, reagiert Frau Mayr zwar nickend, nimmt das aber nicht auf. Stattdessen spricht sie von einer „lebensfesten Sozialhilfe“, wie sie es auch in früheren Stellungnahmen schon getan hat, in denen sie sich gegen ein BGE aussprach. Es ist merkwürdig, dass sie auf der einen Seite zurecht den Umgang mit Menschen kritisiert, die nicht erwerbstätig sind, aus welchen Gründen auch immer, auf der anderen aber nicht sieht, dass dieser Umgang auch etwas mit dem normativen Rang von Erwerbstätigkeit zu tun hat. Und hier zeigt sich, dass ihre Betrachtungen doch gewisse Verengungen enthalten, denn dieser Rang von Erwerbstätigkeit zeigt sich im Allgemeinen. Die Abwertung von Familie, das sozialpolitische Plädoyer für außerhäusliche Frühförderung und Ganztagsbetreuung ist ohne das Erwerbsgebot in seiner gegenwärtigen Stellung gar nicht zu verstehen. So reicht dieser Geist bis in die Bildungseinrichtungen hinein und formt – Stichwort „Bologna-Reformen“ – diese erheblich. Gegen das Erwerbsgebot scheint sie aber nichts zu haben, ihre Kritik ist damit kurzsichtig.

Dass sie von einem BGE nichts hält, bestätigt auch ein Interview in der Berliner Zeitung:

„Haben Sie neben der Anhebung des Hartz-IV-Satzes noch weitere Ideen, um die Situation der Arbeitslosen zu verbessern?
[Mayr] Wenn wir dann gleichzeitig auf einer gesellschaftlichen Ebene das Nicht-Arbeiten enttabuisieren, wäre vieles schon viel besser. Darüber hinaus sollte man den dritten Arbeitsmarkt als politisches Konzept wiederentdecken, also staatlich geförderte Beschäftigung. Damit Menschen einen Ort haben, wo sie hingehen und etwas Sinnvolles tun können: in sozialen Einrichtungen helfen, mit Flüchtlingen arbeiten, Erzieher unterstützen, Schulkindern über die Straße helfen. Ich bestreite ja nicht, dass Arbeit glücklich machen kann.“

Frühere Beiträge zu Anna Mayrs Überlegungen finden Sie hier.

Sascha Liebermann