Sozialstaat ohne Existenzminimum? Frank Lübberdings verkürzte Darstellung

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schreibt Frank Lübberding über die jüngste Sendung von maischberger (die ich nicht gesehen habe), in der es um Trotz Rente und Arbeit: Kann Armut jeden treffen?“ ging. Zurecht weist Lübberding auf Sinn und Zweck des heutigen Sozialstaats hin, dass er der Sozialstaat einer „Arbeitsgesellschaft“ sei und deswegen es nicht verwundern könne, wenn die von ihm bereitgestellten Absicherungsleistungen sich vor allem daran ausrichteten. Wobei das so ganz die Sache nicht trifft, denn Lübberding vergisst, dass die Aufgabe von Arbeitslosengeld II und Sozialhilfe dieselbe ist wie im Falle der steuerlichen Freistellung des Existenzminimums durch den Grundfreibetrag in der Einkommensteuer. Trotz aller Erwerbszentrierung gibt es eine Fürsorgepflicht des Staates als politischer Gemeinschaft, die nicht eine für Erwerbstätige, sondern für Bürger und Personen mit Lebensmittelpunkt in Deutschland insgesamt ist. Es geht um die Existenzsicherung, ganz gleich ob Erwerbsbeiträge gezahlt wurden. Allerdings ist auch diese Existenzsicherung nicht als Daueralimentierung gedacht, Leistungsbezieher sollen aus ihr wieder herausgelangen durch Erwerbstätigkeit. Lübberding verkürzt diesen Zusammenhang aber, wenn er folgendes schreibt:

„Dazu [zu den Absicherungsfällen des Sozialstaats, SL] zählen der Arbeitsunfall, die Krankheit, die Arbeitslosigkeit, das Alter und die Pflege. Diese Voraussetzungen bestehen bis heute, obwohl manche Wissenschaftler schon vor Jahrzehnten das „Ende der Arbeitsgesellschaft“ prognostizierten. So können sich Wissenschaftler irren. Tatsächlich haben wir – noch – die höchste Erwerbsquote in der Geschichte des Landes. Dabei beruht der Sozialstaat verteilungspolitisch auf dem Äquivalenzprinzip, oder populär Lebensleistung genannt. In der Renten- und Arbeitslosenversicherung orientieren sich die Anwartschaften an den vorher gezahlten Beiträgen. Darauf wies ironischerweise Metzger hin. Gehört er doch zu jenen Neoliberalen, die schon seit Jahrzehnten dieses Äquivalenzprinzip durch ein schlichtes staatliches Grundsicherungsmodell ersetzen wollen. Erstaunlich war allerdings, dass Opoczynski als Experte mit dem Begriff nichts anzufangen wusste, und ihn der Sozialdemokrat Stegner als irrelevant abtat.“

Hier spart Lübberding die Sicherung des Existenzminimums aus, das eben gerade nicht dem Äquivalenzprinzip bzw. der „Lebensleistung“ folgt. Dass seine Sicherung Aufgabe eines Gemeinwesens ist, stellte einst das Bundesverfassungsgerichts fest. Seine Bemerkung zur These vom „Ende der Arbeitsgesellschaft“ ist etwas flapsig, zwar hat sie sich in der kruden Form nicht erfüllt, doch sollten differenziertere Betrachtungen nicht ausgespart werden. So stellte Ralf Dahrendorf in seinen Beiträgen gar nicht in Frage, dass es Erwerbsarbeit weiterhin geben würde, wobei auch seine Ausführungen ambivalent sind, siehe hier. Es ging ihm aber um noch etwas anderes, das wenige überhaupt thematisiert haben: ein „Mindesteinkommen als konstitutionelles Anrecht“, also genau das, was die Fürsorgepflicht mit der Existenzsicherung zum Ausdruck bringt. Dahrendorf weist ebenso schon auf die Verwandlung des „Berufs“ zum „Job“ hin, die darauf schließen lässt, dass die Einkommenserzielung Oberhand gewonnen hat gegenüber der Aufgabenorientierung, Erwerbsarbeit mehr am bloßen Dabeisein als an Leistung gemessen werden. Damit nimmt er vorweg, was viele Jahre später Wolfgang Streeck und Rolf Heinze auf die Formel brachten „fast (jeder) Arbeitsplatz ist besser als keiner“. Beschäftigungspädagogik geht vor Leistung.

Was die Erwerbsquote betrifft, so ist Lübberding sicher nicht unbekannt, dass sie – wenn man in Maßstäben der Arbeitsgesellschaft denkt – gar nicht aussagekräftig ist, wenn zugleich das Arbeitsvolumen pro Kopf auf lange Sicht betrachtet wird, es ist gesunken. Das Arbeitsvolumen verteilt sich nur anders, allerdings um den Preis, dass diejenigen in Teilzeit später das Nachsehen haben werden (siehe z. B. hier), denn der Zuwachs an Teilzeitarbeitsplätzen ist relativ hoch.

Dass Oswald Metzger als Befürworter eines pauschalierten staatlichen Grundsicherungsmodells dargestellt wird in aller Kürze, muss doch verwundern. Man erfährt ja nicht, welcher Art von Grundsicherung. Früher äußerte sich Metzger drastisch zum Bedingungslosen Grundeinkommen (siehe hier).

Sascha Liebermann