Warum nicht beide Seiten der Medaille benennen? Ralf Krämer über das Pilotprojekt Grundeinkommen

Ralf Krämer (siehe auch hier), Ver.di, schreibt darüber auf der Seite von Makronom. Der Beitrag reagiert auf einen von Jürgen Schupp, der Grenzen und Möglichkeiten des Pilotprojekts Grundeinkommen, das Mein Grundeinkommen im August lanciert hat, auslotet. In Variation eines Sprichwortes könnte man hier sagen, die Sprache macht die Musik und zeigt die Richtung an, aus der gedacht wird. Man nehme diese Formulierung:

„Das grundlegende Problem ist folgendes: Egal wie ein BGE und seine Finanzierung konkret aussehen würde, immer wäre es so, dass auf irgendeine Weise die über ein BGE verteilten Einkommen bzw. ihre Kaufkraft bei anderen Einkommen durch höhere Steuern oder Abgaben eingesammelt oder durch geringere Sozialleistungen und andere öffentliche Ausgaben kompensiert werden müssten.“

Warum ist das ein „Problem“? Es wäre lediglich so, wie Krämer schreibt, dass dieses Geld eben „eingesammelt“ werden müsste. Auch heute muss die Finanzierung von Sozialleistungen eingesammelt werden und selbst die Ansprüche an die Sozialversicherungen werden durch einen Generationenvertrag ermöglicht, d. h. die Ansprüche werden nicht von denen bedient, die sie selbst beziehen. Darüber hinaus ist die lapidare Feststellung, dass dies durch „geringere Sozialleistungen und andere öffentliche Ausgaben kompensiert werden“ müsste, nur die Hälfte des Ganzen. Ein BGE in der genannten Höhe würde etliche Leistungen schlicht überflüssig machen, sie könnten umstandslos wegfallen, andere hingegen nicht. Wenn ein BGE bestimmte Leistungen ersetzen kann, sind sie nicht mehr nötig – oder soll das anders gemeint sein?

Auch diese Passage ist tendenziös in dem Sinne, dass nur eine Seite betont wird:

„Bei 1.200 Euro monatlich für Erwachsene und vielleicht die Hälfte für Kinder und Jugendliche müssten jährlich knapp 1,1 Billionen Euro ausgezahlt werden. Das entspricht knapp einem Drittel des Bruttoinlandsprodukts und weit über 40% des Volkseinkommens. Das ist mehr als momentan für alle Sozialleistungen zusammen aufgewendet wird, von denen ein Großteil auch mit einem BGE weiterhin notwendig wäre und weitere nur in jahrzehntelangen Übergangsprozessen umgebaut werden könnten.“

Krämer nennt den absoluten Betrag, die Bruttokosten, verschweigt aber, dass es keine Grund- und vielleicht auch anderen Freibeträge mehr geben würde, die heute ebenso Bestandteil des Volkseinkommens sind und per direkter Steuer nicht angetastet werden dürfen. Der Grundfreibetrag leitet sich aus der Sicherung des Existenzminimums her, wird dieses durch ein BGE gesichert, braucht es den Freibetrag nicht mehr. Genau dieser Zusammenhang wird in der Diskussion schon lange hergestellt, von Kritikern allerdings häufig übersehen. Wie lange ein Übergangsprozess dauern würde, hängt davon ab, welche Schritte gegangen werden in der Umsetzung. Es kann auch schneller gehen. Das vielzitierte Beispiel, Rentenansprüche seien doch Eigentumsansprüche und könnten nicht angetastet werden, verfängt nicht, denn die Frage ist, aus welcher Quelle die Ansprüche bedient werden. Und ja, man wird sich ein Übergangsszenario überlegen müssen, dessen Gestaltung ist eine eminent politische Frage.

Hier das Szenario, das Krämer fürchtet:

„Politökonomisch und die Kräfteverhältnisse im Kapitalismus berücksichtigend wäre im Gegenteil zu befürchten, dass die Kapitalseite ein BGE zu verschärfter Lohndrückerei, gegen Arbeitnehmerrechte und Tarifverträge und gegen den Sozialstaat nützen könnte. Auf jeden Fall ist klar, dass ein BGE – so wie es auch mit dem bestehenden Sozialstaat der Fall ist – überwiegend von der lohnabhängigen Mehrheit der Bevölkerung selbst bezahlt werden müsste.“

„Die Kapitalseite“ – gab es denn massive Widerstände der Arbeitnehmerseite gegen Hartz IV? Waren die Gewerkschaften denn vehemente Gegner? Dass Bürger mit einem BGE in der Hand anders verhandeln könnten, schließt er völlig aus, weshalb? Er mag es ihnen nicht zutrauen, d. h. aber nicht, dass sie es nicht könnten. Ob sie es nutzen, wäre doch ihre Sache. Wenn sie nicht verhandeln wollten, ist das auch ihr gutes Recht. Ein BGE muss aus dem Volkseinkommen finanziert werden, ja, wie denn sonst? Welche Einkommen da herangezogen werden, ist eine politische Gestaltungsfrage, die nicht erst mit dem BGE heraufzieht, sondern sich schon immer gestellt hat und beantwortet werden musste. Genauso könnte Krämer gegen den Sozialstaat im allgemeinen argumentieren, da er aus Einkommen finanziert werden müsste.

„An dem Sachverhalt, dass in den kommenden Jahrzehnten weniger Erwerbstätige für mehr Ältere aufkommen müssen, würde ein BGE nichts ändern. Die Digitalisierung hat sich bisher gesamtwirtschaftlich nicht in beschleunigtem Produktivitätszuwachs und Beschäftigungsverlusten niedergeschlagen und wird das voraussichtlich auch in den nächsten Jahrzehnten nicht tun.“

Die entscheidende Frage ist hier, wie deutet man die Abnahme der Arbeitszeit je Erwerbstätigem? Mehr Erwerbsverhältnisse, weniger Arbeitszeit pro Kopf, das könnte genauso heißen weniger Erwerbsverhältnisse und dasselbe Arbeitsvolumen, wenn es weniger Teilzeit gäbe. So einfach ist es also nicht (sein Kollege Kai Eicker-Wolf sah das in einem älteren Beitrag gar nicht so eindeutig, siehe hier, wenn auch er in dieselbe Richtung wie Krämer argumentiert).

Weiter heißt es:

„Wenn tatsächlich durch Automatisierung und ökonomische Krisen künftig die Erwerbslosigkeit steigen würde, würde das die Finanzierungsbasis eines BGE ebenso belasten wie die der bestehenden Sozialsysteme. Denn letztlich müssen alle diese Leistungen immer aus der durch Erwerbsarbeit produzierten Wertschöpfung aufgebracht werden.“

Wertschöpfung = Erwerbsarbeit? Kann sich Krämer denn nicht vorstellen, dass Sozialsysteme über Steuern finanziert werden, die auf alle Einkommen erhoben werden, auch die Unternehmenseinkommen? Seiner Logik zufolge müssten Arbeitsplätze erhalten werden, damit Sozialsysteme finanziert werden könnten!? Und wenn es – was er ja selbst schreibt – für die Wertschöpfung keiner menschlichen Arbeitskraft bedürfte?

Wären, womöglich, könnte, hätte:

„Solch starke und auch schon geringere Erhöhungen der Grenzabgabenbelastung hätten mit Sicherheit relevante Auswirkungen auf das Erwerbsverhalten, das ja im Mittelpunkt des Interesses stehen soll. Diese Wirkungen wären möglicherweise sogar deutlich stärker als die eines monatlichen Geldgeschenks von 1.200 Euro, die in der DIW-Studie untersucht werden. Insbesondere dürfte die Neigung zu informellen, nicht besteuerten Erwerbsaktivitäten (sprich Schwarzarbeit und Schattenwirtschaft) als „Zuverdienst“ zum BGE erhöht werden.“

Mutmaßungen auf der Basis der Vorstellung, dass Erwerbsengagement direkt mit der Abgabenbelastung zusammenhängt. Das würde sich erweisen müssen und ist keineswegs klar. Auch hier thematisiert Krämer nur eine Seite.

An einer Stelle trifft Krämers Kritik allerdings einen wichtigen Punkt, dass das Pilotprojekt Grundeinkommen wohl eher Missverständnisse befördere, da die Auszahlung nicht mit einer zugleich erfolgenden Besteuerung zu seiner Finanzierung versehen ist. Das getestete BGE ist eben, auch da würde ich folgen, ein Geldgeschenk und das ist etwas anderes, als ein durch ein Gemeinwesen bereitgestelltes BGE, das auch von diesem Gemeinwesen aufgebracht werden müsste. Das ist in seiner praktischen Bedeutung ein nicht zu unterschätzender Zusammenhang, von dem man allerdings auch sagen könnte: Wo es keine Mehrheit gibt, wird ein BGE ohnehin nicht eingeführt; wo es sie hingegen gibt, ist alles möglich.

Was das methodische Instrumentarium und die gesamte Anlage des Pilotprojekts samt wissenschaftlicher Begleitung betrifft, sehe ich das erheblich kritischer, wie ich an anderer Stelle schon dargelegt habe.

Sascha Liebermann