Umfragehochs und Abstimmungstiefs…

…eine Notiz von Norbert Häring mit Blick auf vergangene Umfragehochs der SPD und den realen Wahltiefs. Am Ende merkt Häring an, dass es an den Modellen und der Datenbearbeitung liegen könne und zeigt sich vorsichtig, weil er darüber zu wenig wisse.

Methodisch können zwei entscheidende Punkte angemerkt werden, weshalb Meinungsumfragen weit abweichen können von nachfolgenden Entscheidungen, also realem Handeln im Unterschied zu hypothetischem. Umfragen fragen hypothetisches Handeln ab bzw. in der Hierarchie von Wissensformationen eine Ebene, die oberflächlich und schwankend ist: Meinungen (meist wird von „Einstellungen“ gesprochen). Es handelt sich um Einschätzungen zu einer Frage, die aber nicht tatsächliches Handeln abbilden.

Das erklärt auch, weshalb Nachwahl-Befragungen (exit-Polls) erheblich treffsicherer sind als die „Sonntagsfrage“. Gravierender noch ist der Umstand, dass Umfragen standardisierte Daten erzeugen, d. h. den Befragten Antworten vorgeben, die sie wählen müssen, ohne sich konkret in der eigenen Sprache ausdrücken zu können. Die vom Individuum und seinen Deutungswidersprüchen weit abstrahierenden standardisierenden Daten erlauben so keinen Einblick in die differenzierten Deutungsmuster von Befragten und ihre handlungsleitenden Überzeugungen, durch das methodische Vorgehen wird der Forschungsgegenstand erheblich zurechtgestutzt.

Ganz anders ist das bei nicht-standardisierten Verfahren, wie sie in der interpretativen bzw. fallrekonstruktiven Forschung zum Einsatz kommen. Trotz einer äußerst differenzierten Methodendiskussion in den Sozialwissenschaften sind diese Verfahren in der Öffentlichkeit wenig bekannt, allenfalls unter dem Stichwort qualitative Forschung, das allerdings ziemlich unscharf ist und sogar standardisierte Auswertungsverfahren einschließt. In den Sozialwissenschaften sind die nicht-standardisierten Verfahren zwar etabliert, im Selbstverständnis der Disziplinen dominieren jedoch die standardisierten Verfahren, die gemäß dem naturwissenschaftlichen Messverständnis als präzise gelten, obwohl sie hochartifizielle Datensammlungen hervorbringen.

Daraus könnte man den Schluss ziehen, dass solchen Umfragen keine Beachtung geschenkt werden sollte. Stattdessen wären Politiker, sofern sie es nicht ohnehin tun, gut beraten, mit den Bürgern direkt zu sprechen, sich vielfältige Eindrücke von den Sorgen zu verschaffen. Manches Mal hört man von erfahrenen Politikern auch den Ausspruch „Das ist doch nur eine Umfrage“. Das ist treffend und wird dem Stellenwert gerecht. Auch die Diskussionsrunden an den Wahlabenden sind hypothetisches Gerede, an dem sich die Parteien nicht beteiligen sollten, sie sind Ausdruck medialer – kulturindustrieller – Vereinnahmung des Politischen. Wirkliche Verhandlungen können erst beginnen, wenn klar ist, wie die Wahl ausgegangen ist, das steht erst Tage später fest.

Insofern ist auch eine solche Befragung, die selbst einräumt, dass Zustimmung zu einem BGE nicht mit Reformbereitschaft einhergeht, wenig aussagekräftig. Denn, welchen Stellenwert hat Zustimmung, wenn sie nicht zu Veränderung führt? Oder liegt die Diskrepanz auch hier wieder an der Methodik?

Siehe meinen früheren Kommentar dazu hier und hier.

Sascha Liebermann