„Bürgergeld muss auskömmlich sein“ – pädagogisch wertvolle Umdeklarierung des Altbekannten…

…so ließe sich ein Interview mit der SPD-Vorsitzenden Saskia Esken in der taz kommentieren. Wir hatten vor kurzem das Sondierungspapier kommentiert, in dem vom Bürgergeld und anderen Zielen die Rede war, die die Ampel-Koalition an die Stelle von Hartz IV setzen will. Bislang klang das stark nach Aufhübschung. Wer von der Sanktionslogik im Arbeitslosengeld wirklich wegkommen will, muss am Erwerbsgebot ansetzen, sonst geht das nicht, denn zu nichts anderem dienen Sanktionen, als seine Geltung zu bekräftigen. Im Sondierungspapier war das unter dem Begriff der Mitwirkungspflicht deutlich zu erkennen. Was nun hat Saskia Esken (siehe auch hier und hier) dazu zu sagen?

Die taz fragt sie:

„[taz] Ein weiteres SPD-Thema ist das neue Bürgergeld, das Hartz IV ersetzen soll. Wie hoch soll es sein?

[Esken] In unserem Zukunftsprogramm steht, dass wir die Berechnung überarbeiten wollen. Gleichzeitig gilt das Lohnabstandsgebot. Wer Vollzeit arbeitet, muss mehr in der Tasche haben als BezieherInnen einer Lohnersatzleistung. Wenn die Löhne steigen, kann das entsprechend höher sein.“

Das Lohnabstandsgebot gilt als ehernes Gesetz der Sozialpolitik und schreibt fest, dass es eine Ungleichbehandlung von Ungleichem geben soll. Hintergrund dafür ist das Theorem der Armuts- oder auch Arbeitslosigkeitsfalle, das auf der Vorstellung fußt, dass es einen „Anreiz“ geben müsse, damit Bezieher von Arbeitslosengeld oder auch Sozialhilfe den Weg zurück in den Arbeitsmarkt finden. Ohne Anreiz, so die Behauptung, fänden sie ihn nicht. Auch wenn sich diese Vorstellung hartnäckig hält, nicht nur in der öffentlichen Diskussion sondern ebenso in der Fachliteratur, so ist das Theorem mehr als zweifelhaft und harrt seiner empirischen Bestätigung, wie schon vor ca. zwanzig Jahren deutlich wurde (siehe hier). Überhaupt wird der Begriff „Anreiz“ in der Regel in einer extrem vereinfachten Form gebraucht, die auf eine Dimension zusammenschrumpft: Aussicht auf Einkommen. Das wird nicht einmal der in der Psychologie differenzierteren Betrachtung gerecht. Wie man an der Diskussion sehen kann, hindert eine empirische Widerlegung Vorurteile bzw. stark reduktionistische Annahmen nicht an ihrem Fortleben. Davon einmal abgesehen wäre das Lohnabstangsgebot ganz einfach einzuhalten, wenn es eine dauerhafte Basisalimentierung gäbe, in Form eines Bedingungslosen Grundeinkommens, und jedes darüber hinausgehende Einkommen einfach dazukäme. Doch den Schritt will die Ampel nicht gehen.

Sogar für Hartz IV allerdings hat Johannes Steffen schon vor drei Jahren gezeigt, gelte das Lohnabstandsgebot noch – auch wenn es für die Rückkehr in den Arbeitsmarkt überhaupt nicht so bedeutend ist, wie behauptet wird. Die benannten Studien zur Armutsfalle haben hingegen gezeigt, dass der Abstand gar nicht die Bedeutung hat, die ihm beigemessen wird.

Eine andere Frage, die sich hier ergibt, ist, wird das Bürgergeld denn als fester, unverfügbarer Boden verstanden, der eine definierte Höhe haben muss oder kann es, um das Lohnabstandsgebot einzuhalten auch niedriger ausfallen? Ausgeschlossen worden ist das bislang nicht.

Zu Sanktionen heißt es:

„[taz] Im Moment kürzen Jobcenter säumigen Arbeitslosen die Grundsicherung, um sie zu disziplinieren. Müssen die Sanktionen weg?

[Esken] Es geht nicht um Disziplin, sondern um das gemeinsame Ziel einer besseren Teilhabe. Der Staat muss ein menschenwürdiges Existenzminimum garantieren. Wer staatliche Leistungen erhält, der hat auch Verantwortung und muss daran mitwirken, seine Situation zu verbessern. Aber Augenmaß ist wichtig.“

Eine schöne rhetorische Aufhübschung auch hier: Sanktionen dienen dazu, eine bessere Teilhabe zu erreichen, also dienen sie dem guten Zweck und helfen denjenigen, die das noch nicht verstanden haben, ihre Lebenslage zu verbessern. Gut, dass dies festgestellt wird, hätte es sonst beinahe übersehen werden können. Das Sozialgesetzbuch sieht das anders. Bei der Gelegenheit muss man sich daran erinnern, dass Arbeitslose ja seit etlichen Jahren Kunden sind, das klingt auch gut. Aber welche Kunden erhalten denn sanktionsbewehrte Einladungen, also Vorladungen?

Hier sieht man, was dabei herauskommt, wenn Reden über die Abschaffung von Hartz IV oder gar Sanktionen gehalten werden, auf das Erwerbsgebot jedoch nicht verzichtet werden soll. Das eine geht allerdings nicht ohne das andere. Da bleibt nur, die Sache etwas umzuformulieren.

Es gibt noch einen weiteren Anlauf im Interview, um Aufklärung zu erreichen, und zwar direkt im Anschluss an die vorangehende Passage:

„[taz] Das heißt?

[Esken] Wir wollen eine wertschätzende, die Selbstbestimmung stärkende Kultur in den Jobcentern. Wer alters- oder gesundheitsbedingt geringe Chancen auf dem Arbeitsmarkt hat, braucht andere Maßnahmen als die alleinerziehende Mutter. Wenn wir sie beide mit denselben Erwartungen konfrontieren, müssen wir uns nicht wundern, wenn die Motivation schwindet.“

Wertschätzung und Selbstbestimmung unter Sanktionsbewehrung – warum nicht, klingt auch gut. Selbstbestimmung setzt voraus, ich kann entscheiden, ob ich eine Möglichkeit wahrnehmen will oder nicht – ist das beim Arbeitslosengeld so? Kann man darauf verzichten, wenn kein anders Einkommen zur Verfügung steht? Wer das behauptet, ist zynisch, oder hat nicht verstanden, dass Kunden der Jobcenter eben keine echten Kunden sind. Die pädagogisch wertvolle Formulierung dessen, was in den Jobcentern selbstverständlich sein sollte, ändert nun gar nichts an der Sanktionsbewehrung. Der Verweis auf die alleinerziehende Mutter sollte hellhörig machen, denn hier zeigt sich, was auch im Sondierungspapier deutlich wurde. Nicht benötigt diese Mutter Möglichkeiten, damit sie entscheiden kann, ob sie erwerbstätig sein oder sich um ihr Kind kümmern will – sie soll erwerbstätig sein.

Die Würde des Menschen ist die Würde des Erwerbstätigen.

Sascha Liebermann