Soziokulturelles Existenzminimum, Mitwirkungspflichten und Boni-Systeme

Sebastian Thieme hat in diesem Twitter-Thread bedenkenswerte Anmerkungen zu Sanktionen im Sozialgesetzbuch und dem diesbezüglich ambivalenten Urteil des Bundesverfassungsgerichts gemacht. An manchen Stellen scheinen mir Ergänzungen oder auch Nachfragen dazu angebracht.

Dass es eine Widersinnigkeit sei, das soziokulturelle Existenzminimum kürzen zu dürfen, dem sei hier nicht widersprochen, schließlich wird der Grundfreibetrag in der Einkommensteuer, der sich aus derselben Begründung legitimiert, auch nicht bei abweichendem Verhalten gekürzt. Darin kommt nun wieder die Ungleichbehandlung zwischen Erwerbstätigen und Nicht-Erwerbstätigen zum Ausdruck.

Thieme kritisiert dann zurecht die „schwarze Pädagogik“ und das „Denken in Anreizen“, stellt dem ein Boni-System gegenüber, das ebenso denkbar sei, aber kaum diskutiert werde. Ein Boni-System ist jedoch ebenso ein Anreiz-System, denn hier wird Wohlverhalten belohnt, also eine besondere Verhaltenskonformität bezüglich eines Zieles prämiert. Bonus- wie Malus-Systeme folgen der Anreiz-Logik gleichermaßen, allenfalls werden die Vorzeichen vertauscht. Diese Erklärung von Handeln verkennt, was für Handeln das entscheidende Fundament bildet, die konkrete Haltung einer Person zur Welt. Deswegen wäre es angemessener, von autonomiehemmenden oder -verstärkenden Handlungsbedingungen zu sprechen, so wie Walter Edelmann herausgehoben hat, dass „extrinsische Motivation“ verstärkend oder schwächend wirken kann, die Handlungsinitiierung auf Seiten des Indidivduums jedoch schon vorausgesetzt werden muss. Edelmann ordnet Anreize deswegen der Seite „intrinsischer Motivation“ zu, ganz anders also, als sie gemeinhin benutzt werden. Will man der schon begriffssprachlichen Reduktion von Handlungsmotivation entgehen, sollte auf den unpräzisen „Anreiz“-Begriff verzichtet oder wenn das nicht, dann wenigstens komplex argumentiert werden – was selten vorkommt.

Mitwirkungspflichten, schreibt Thieme dann noch, können in der Tat als „Gängelei empfunden“ werden, dem würde ich folgen. Den Blick auf die Wahrnehmung oder Deutung von Pflichten vorrangig zu richten, ist jedoch wiederum verkürzt, denn ob jemand etwas als Gängelei empfindet oder ob er tatsächlich gegängelt wird, ist nicht dasselbe. Hierzu gibt es zweierlei Varianten: den einen Fall, in dem eine tatsächliche Gängelei nicht als solche empfunden wird, was sie nicht besser macht; den anderen, in dem etwas als Gängelei empfunden wird, das jedoch keine ist, der Grund für die Deutung also woanders liegen muss. Die stigmatisierenden Folgen der Sanktionen im SGB beruhen nicht auf einem Gefühl, sondern auf einer strukturellen Stigmatisierung durch den Vorrang von Erwerbstätigkeit. Man kann sie nicht durch freundliche Umgangsformen aufheben, lediglich kann man die Konfrontation damit respektvoller gestalten.

Überhaupt ist es ein Phänomen der jüngeren Zeit, welch herausgehobene Bedeutung dem zukommt, was jemand fühlt, ohne genügend zu beachten, ob denn dieses Fühlen eine Grundlage in der äußeren oder der inneren Realität einer Person hat. Wenn davon die Rede ist, dass die Bürger sich mitgenommen fühlen sollen, müsste doch aus Gründen der Ernsthaftigkeit die Frage gestellt werden, ob sie denn zum einen mitgenommen werden oder selber gehen wollen, zum anderen ob sie tatsächlich ernst genommen werden und nicht nur sich ernst genommen fühlen können. Letzteres ist belanglos, wenn ersteres nicht der Fall ist, es handelte sich um einen Fall von Selbsttäuschung.

Sascha Liebermann