Paul Collier und Kevin Kühnert – zwei Interviews, dieselbe Stoßrichtung, „klassische“ Engführung in Sachen Grundeinkommen

Auf der Website 21Zeitgeister veröffentlichen Lucius Maltzan & Simon Nehrer sukzessive Interviews mit Zeitgenossen. Darunter sind auch Interviews, in denen das Bedingungslose Grundeinkommen vorkommt, nachstehend kommentiere ich die Antworten zweier Gesprächspartner, darunter der Entwicklungsökonom Paul Collier und Kevin Kühnert, stellvertretender Bundesvorsitzender der SPD. Was sagt Paul Collier zum Grundeinkommen?

„[Frage] Wäre ein bedingungsloses Grundeinkommen das richtige Mittel, um sich aus den ökonomischen Abhängigkeiten zu befreien?

[Collier] Nein, wäre es nicht. Das bedingungslose Grundeinkommen löst den Verbrauch vom Beitrag. Es würde uns in erster Linie auf unsere Rolle als Konsumenten einschränken und ungewollt eine Friedman-Chicago-Welt erschaffen, in der alle »frei wählen« könnten – aber bloß als Konsumenten. Rubbish!
Martin Seligman hat untersucht, unter welchen messbaren Bedingungen ein gutes Leben gelingen kann. Sein Fazit: Erfüllung finden wir in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen und der Verfolgung von Zielen, die über uns hinausgehen.“

Die erste Antwort, das BGE löse den Verbrauch vom Beitrag, ist nur dann zutreffend, wenn es um den Leistungsbeitrag im Erwerbsgeschehen geht im Sinne eines unmittelbaren Zusammenhangs zwischen indivduellem Einkommen und Erwerbsbeitrag. Das wäre aber kein Novum, denn es gilt schon heute für sozialstaatliche Leistungen, auch das Arbeitslosengeld I, denn Bezieher leisten zum Zeitpunkt des Bezugs keinen Erwerbsbeitrag (Stichwort: Umlageverfahren). Das Erwerbsgeschehen wiederum steht nicht für sich, es ist abhängig von der Leistung, die außerhalb desselben erbracht wird, und zwar in Gestalt nicht-erwerbsförmiger Leistung. Das ist bei allen Haushaltstätigkeiten der Fall, der größte Posten „unbezahlter Arbeit“.

Collier argumentiert hier geradezu klassisch, übersieht, dass Leistungsfähigkeit und -bereitschaft zuerst einmal sich entwickeln müssen, bevor jemand in der Lage ist, Erwerbsaufgaben zu übernehmen. Insofern könnte ihm hier zurecht entgegengehalten werden, dass ein BGE gerade dazu dienen soll, die Leistungen zu ermöglichen und zugleich anzuerkennen, die nötig sind, damit es einen Beitrag in Colliers Sinne geben kann.

Weshalb sollte ein BGE die Bürger auf „die Rolle des Konsumenten“ beschränken? Ein BGE geht weder mit einem Erwerbsverbot einher, noch schränkt es die Bürger irgendwie ein, da es gerade keine Verhaltensbedingung setzt, die erfüllt sein muss, um ein BGE zu erhalten. Wie Collier – auch mit diesem Einwand steht er nicht alleine – darauf kommt, bleibt sein Geheimnis. Offenbar aber denkt er hier in der Tradition der Stilllegungsprämie, die ein BGE angeblich sei.

Das Beste kommt zum Schluss, eine starke Aussage, die genau für ein BGE spricht, die gar nicht weiter kommentiert zu werden braucht. Collier scheint hierfür keine weiteren „Anreize“ für nötig zu erachten, er traut den Bürgern offenbar zu, das selbst in die Hand zu nehmen. Um so besser, genau das will ein BGE auch.

Wie äußerte sich Kevin Kühnert?

„[Frage] Selbstwirksamkeit eignet also jeder guten Arbeit. Könnte nicht ein bedingungsloses Grundeinkommen jedem die Möglichkeit eröffnen, sich in seiner Arbeit zu verwirklichen?

[Kühnert] Dann überlasse ich diese Möglichkeit aber jedem selbst – und zwar in dem Wissen, dass nicht alle von Haus aus die gleichen Grundvoraussetzungen mitbringen, sondern sich in Bildung, Werten, Weltläufigkeit, Milieu und Sozialisierung unterscheiden. Und das wirkt sich auf die Verhandlungsposition auf dem Arbeitsmarkt aus.

Ausbildung und Arbeit sind aber Möglichkeiten, dem eigenen Milieu in der Aufstiegsgesellschaft zu entwachsen, wenn man das möchte. Insofern wäre das bedingungslose Grundeinkommen für sozial schlechter gestellte Menschen keine große Verheißung, weil kaum mehr eine Chance bestünde, der eigenen Lebenswirklichkeit zu entfliehen. Im Prinzip lautet die Ansage: »Hier hast du, und nun sieh zu, wie du klarkommst.“

Auch Kühnert wendet etwas ein, das mit einem BGE nicht zwingend einhergeht. Wenn ich jemandem die Möglichkeit gebe zu tun, was er für richtig und wichtig erachtet, dann überlasse ich ihm diese Entscheidung. Will Kühnert den Einzelnen nicht entscheiden lassen wegen der von ihm genannten Unterschiede? Will er diese Unterschiede tilgen? Wie stellt er sich das vor? Das Bildungswesen hat heute schon den Auftrag, Allgemeinbildung zu ermöglichen, auch wenn dies im Elternhaus weniger gefördert würde. Der Bildungsprozess hängt aber entscheidend davon ab, ob Kinder für ihn aufgeschlossen sind – und das sind sie in der Regel. Doch weder kann das Bildungswesen die Herkunft tilgen, noch wäre das wünschenswert, weil diese Herkunft die Erfahrungsbasis jeder Person ist. Das Bildungswesen kann die Möglichkeiten erweitern, aber nicht gegen die Herkunft, sondern nur auf ihrer Basis. Wenn Kühnert wegen der Unterschiede dem Einzelnen die Entscheidung nicht überlassen will, wer trifft sie denn dann? Wer nicht volkserzieherisch eingreifen will, muss dem Einzelnen Möglichkeiten verschaffen, das Bildungswesen ist eine Form davon (leidet heute aber unter der Beschulungspflicht), die Einkommenssicherung eine andere.

Dann weist Kühnert auf solche Möglichkeiten hin, die er durch „Ausbildung und Arbeit“ gegeben sieht. Hier spricht er ausdrücklich davon, dem Milieu entwachsen zu können, „wenn man das möchte“. Das heißt aber, die Entscheidung bleibt eben beim Einzelnen, was ein direkter Widerspruch zum Vorangehenden ist. Darauf folgt wieder eine Wendung, denn nun ist das BGE der Grund dafür, diese Möglichkeiten nicht zu ergreifen – weswegen? Verdammt es den Einzelnen dazu, dem angestammten Platz verhaftet zu bleiben? Weshalb sänken mit ihm die Möglichkeiten, der „eigenen Lebenswirklichkeit“ zu entfliehen – ganz abgesehen davon, ob die eigene Lebenswirklichkeit nicht immer die eigene bleibt? Was Kühnert abschließend sagt, kann eine Befürchtung seinerseits sein, mit einem BGE hat sie nichts zu tun, sie folgt daraus in keiner Weise.

Direkt anschließend an diese Passage fragt der Interviewer nach:

„[Frage] Zumindest könnte ein Grundeinkommen die ökonomischen Abhängigkeiten lindern. Man wäre weniger darauf angewiesen, sich einer freudlosen Tätigkeit zu widmen.

[Kühnert] Die Beträge, die da kursieren, sind doch keine soziale Absicherung, sondern eine Notstandsverwaltung. Selbst wenn wir die höheren Vorschläge heranziehen, bei denen ich es übrigens hochgradig fraglich finde, ob jemand den Mut zur Finanzierung aufbringt: Wenn der Job wegfällt und der Staat stattdessen – sind wir optimistisch – monatlich 1200 Euro überweist, werden insbesondere die Menschen in den Metropolen fragen: »Okay, damit ist die Miete bezahlt. Und wer füllt jetzt den Kühlschrank?«
Über die Verteilung von Produktivitätszuwächsen sagt das Grundeinkommen zudem gar nichts aus. Für sich betrachtet verabschiedet es sich von dem Anspruch, eine Verteilung in größerem Maßstab vorzunehmen – sei es durch Geldtransfers, Zugang zu Innovationen oder Risikokapital.
Mir konnte auch noch keine Verfechterin dieser Idee beantworten, was mit den erkämpften Sozialleistungen wie dem Bafög, der gesetzlichen Rente oder dem Elterngeld passieren soll. All das hat man sich ja nicht zum Spaß ausgedacht, sondern um spezifische Notlagen und Benachteiligungen gezielt auszugleichen. Pauschalzahlungen wären demgegenüber ein sozialer Rückschritt.“

Kühnert geht davon aus, dass es keinerlei bedarfsgeprüfte Leistungen mehr geben würde, das setzt seine Schlussfolgerung voraus. Außerdem denkt er nur in Kategorien von Einpersonenhaushalten, übergeht Mehrpersonenhaushalte, für die sich die Lage ungleich anders darstellte. In keiner Form geht er darauf ein, dass die pauschalierte Bereitstellung eben keine Beantragung für diesen Betrag nötig macht, sie sowohl eine dauerhafte Absicherung schafft, ohne sich durchleuchten lassen zu müssen, noch sich den Erwerbsverpflichtungen zu beugen, die mit der Bedarfsfeststellung heute einhergehen.

Wäre nicht ein BGE gerade eine Verteilung in größerem Maßstab, eine grundsätzliche, immer verfügbare, um die niemand kämpfen müsste, solange sie bereitsteht? Das ist heute doch ganz anders – weiß Kühnert das nicht? Unwahrscheinlich. Was hat das BGE mit dem „Zugang zu Innovationen oder Risikokapital“ zu tun? Das ist eine vom BGE unabhängige Frage.

Was könnte nun mit den „erkämpften Sozialleistungen“ geschehen, wenn ein BGE eingeführt wäre? Hier zeigt sich Kühnerts Ahnungslosigkeit oder mangelnde Bereitschaft, sich mit der Debatte zu befassen. Es gehört zu den Standardüberlegungen, sich damit zu befassen, welche Leistungen des heutigen Sozialstaats denn ersetzbar wären durch ein BGE. Im Falle des Bafögs wäre überhaupt erst ein verlässliches Bafög eingeführt, eines, das nicht zweckgebunden ist wie heute und das nicht vom Einkommen der Eltern abhängt. Die Wirkung in die Breite wäre gegeben – anders als heute. Dass das Elterngeld gerade Eltern mit niedrigem Einkommen benachteiligt, dass es zwei Klassen von Eltern schafft, eine Prämie für Besserverdiener ist – hat er sich die Leistung schon einmal angeschaut? Wie die gesetzliche Rente weitergeführt werden könnte, auch dazu gibt es Überlegungen, sie hätte allerdings nicht mehr dieselbe Bedeutung wie heute, wenn es schon ein BGE gibt.

Collier und Kühnert haben in ihren Äußerungen manches gemeinsam, in anderer Hinsicht unterscheiden sie sich. Auf der einen Seite trauen sie dem Einzelnen einiges zu, auf der anderen doch wieder nicht. Auf der einen erscheint er als entscheidungsfähiges Individuum, auf der anderen als genau in dieser Hinsicht gefährdet. Einwände, die sie gegen ein BGE vorbringen, sind keine gegen ein BGE, allenfalls gegen bestehende Problemlagen.

Sascha Liebermann