In Ihrem Beitrag in den VDI Nachrichten vom 12.5.2006 berichten Sie über die inzwischen weit gediehene Diskussion um Chancen und Auswege, die ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle Bürger bieten könnte. Sie beziehen sich dabei in erster Linie auf Götz W. Werner, der in seinem unermüdlichen Einsatz für die Idee zu ihrer Verbreitung erheblich beigetragen hat. Angesichts der verfahrenen, rückwärtsgewandten Debatten in unserem Land, in denen sich obsolete Positionen Grabenkämpfe liefern, wenngleich nicht immer ausgemacht ist, wer in welchen Gräben sich aufstellt, scheint der Vorschlag eines bedingungslosen Grundeinkommens der radikalste, klarste und einzige zu sein, der wirklich in die Zukunft weist. Die Tragweite dieser Idee zu ermessen, erfordert, sie mit unserer gesamten Ordnungspolitik abzugleichen, um zu sehen, wie das Grundeinkommen an welcher Stelle und insgesamt wirken könnte.
Nun beginnen Sie Ihren Beitrag mit einer praktisch zwar wichtigen Frage, nämlich derjenigen nach der Finanzierung, verlieren dadurch leider die Idee völlig aus den Augen. Als könne man notwendige Haushaltsaufwendungen bilanzieren, bevor man weiß, wie das Grundeinkommen ausgestaltet werden soll und wie es tatsächlich wirkt, verweisen Sie auf die Experten: „Ökonomen unterschiedlicher Couleur halten das nicht für finanzierbar.“ Bekanntlich sind diese Berechnungen Simulationen und gelten ceteris paribus, also: solange alles beim alten bleibt. Schon diese Annahme zeigt die Beschränktheit der Simulationen, denn die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens hätte weitreichende Auswirkungen. Sie sind also, wie alle Simulationen, von begrenztem Nutzen.
Betrachten wir anhand von Daten des Statistischen Bundesamtes die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts seit 1945, erkennen wir etwas, das in der öffentlichen Diskussion kaum noch eine Rolle spielt: Ein starkes Ansteigen des Bruttoinlandsprodukts geht seit Gründung der Bundesrepublik mit einem starken Absinken der Jahresarbeitsstunden (des Arbeitsvolumens) insgesamt einher. Wir produzieren heute mehr Güter und Dienstleistungen denn je unter abnehmendem Einsatz menschlicher Arbeitskraft. Der Produktivitätsfortschritt macht es möglich und eröffnet uns neue Möglichkeiten, doch, wie Ihre Kritik verdeutlicht, können und wollen wir sie nicht sehen. Wir befinden uns weder in einer Wirtschafts- noch in einer Finanzkrise – sondern in einer Kulturkrise.
Dies ist an der Forderung erkennbar, die Politiker aller Lager immer wieder vorbringen. Erst jüngst sprach der Bundespräsident wieder davon, Arbeit müsse „Vorfahrt“ haben.
Wenn Sie schreiben „Die einen sehen darin [in der Gewährung eines bedingungslosen Grundeinkommens, SL] eine Verkehrung des Sozialstaatsprinzips, bei dem die Fürsorge zur Regel erhoben werde, andere befürchten, dass Werners Konzept auf den Rückzug des Staates bei vielen Dienstleistungen hinauslaufe“, geben Sie genau die Denklager wieder, die uns jeden Ausweg versperren. Fürsorge und Autonomie werden nur als Gegensatz, nicht als notwendiger Zusammenhang gedacht, aber weshalb? Ein Gemeinwesen, das eine starke Absicherung gewährleistet, in der sich alle bisher gewährten bündeln lassen, kann sich zurückziehen und den Bürgern mehr überlassen – Solidarität und Verantwortung würden zugleich gestärkt. Hoheitliche Aufgaben müssen deswegen nicht aufgegeben werden (und sollen es auch gar nicht).
Wir Bürger sind heute viel autonomer, als viele wahrhaben wollen: Doch betrachten wir die Diskussion darüber, was den Bürgern zugemutet werden könne, so gewinnt man den Eindruck, es liege nichts näher, als die Bürger für unmündig zu halten. Ist unser Land etwa keine auf die Volkssouveränität gegründete Demokratie? Haben wir etwa einen Bürger-TÜV oder eine Bürgertauglichkeitsprüfung? So tor waren wir noch nicht, wenngleich nichts unmöglich scheint, wie die Hartz-Gesetze uns lehren. Wie kommt es nur, daß wir einerseits, wir können gar nicht anders, den Bürgern vertrauen: ihrer Loyalität, ihrer Bereitschaft, zum Gemeinwohl beizutragen, andererseits aber, wenn wir über die Bürger sprechen, an welcher Stelle wir Verantwortung in ihre Hände legen und Freiheit ermöglichen können, so extrem mißtrauisch sind? Die Hartz-Gesetze sind ja eine neue Stufe in dieser Hinsicht, vieles andere könnte hier aufgezählt werden. Selbst im geplanten Elterngeld der Bundesfamilienministerin soll es ja nicht den Eltern überlassen werden, wie sie leben wollen.
Der Einwand, ein solches Grundeinkommen sei nicht finanzierbar, mutet sonderbar an angesichts der gewaltigen Summe von ca. 700 Mrd. Euro, die wir heute jährlich für Transferleistungen (Sozialbudget) autwenden. Sie entsprechen einem jährlichen Grundeinkommen pro Kopf von ca. 7500 Euro. Fürsorge praktizieren wir ohnehin, entscheidend ist also, wie sie gestaltet sein soll und wieviel uns die Förderung der Freiheit wert ist. Je höher das Grundeinkommen wäre, desto besser, denn um so freier wären wir. Statt erwerbsarbeitsfixierter beitragsgestützer Sicherungssysteme, in denen der Einzelne Ansprüche erwerben muß, könnten wir auch gleich sagen: wozu die ganze Kontrolle, die nur Mißtrauen bezeugt, wozu die indirekten Leistungen, wenn wir sie auch direkt bereitstellen können.
Dann darf natürlich der Anreizeinwand nicht fehlen, salopp gesprochen: gäben wir dem Esel die Karotte gleich, statt sie ewig vor seiner Nase herzuziehen, dann arbeitete er nicht mehr. Wer so argumentiert, den müssen wir fragen, in welcher Welt er lebt. Erhalten wir etwas Karotten dafür, wählen zu gehen, Kinder zu bekommen, uns ehrenamtlich zu engagieren usw. usf. Als engagierten sich heute nicht Millionen von Bürgern, weil sie es wollen. Als ginge nicht der berufliche Erfolg darauf zurück, daß jemand von etwas begeistert ist und sich deswegen dafür engagiert. Weshalb wohl werden Familien gegründet? Etwa wegen der „Anreizsysteme“? Fehlen darf natürlich auch nicht der Aufschrei, einfache Tätigkeiten blieben liegen, gäbe es ein Grundeinkommen. Gibt es denn heute einen Arbeitsdienst, werden Bürger zu einfachen Tätigkeiten abgeordnet oder gezwungen? Wenn es all dies noch nicht gibt, dann üben sie diese wohl aus, weil sie sich dafür entschieden haben. Auch bei einfachen Tätigkeiten hat man eine Wahl. Wollen wir kein stalinistisches Zwangssystem, dann bleiben folgende Auswege, falls wir kein Personal finden: automatisieren, höhere Löhne anbieten oder es selbst machen – das wäre einer freiheitlichen Gesellschaft gemäß. Aber wollen wir die überhaupt?
Manche der im Beitrag angeführten Einwände könnten noch dargelegt und seziert werden, doch laufen sie alle auf dasselbe Prinzip zurück: der Mensch ist reizgesteuert, macht nur, wofür er eine Gegenleistung erhält, sonst verwahrlost er.
Die entscheidende Frage, vor der wir stehen, ist: Sind wir bereit, alte Denkmuster aufzugeben und uns grundsätzlich mit der gegenwärtigen Lage und ihren Möglichkeiten auseinanderzusetzen. Dann ist das bedingungslose Grundeinkommen ein zukunftsweisender Weg, eine Utopie im besten Sinne, denn was utopisch ist, haben wir noch nicht.