Die jüngsten Ereignisse in Tunesien, Ägypten und Lybien haben uns vor Augen geführt, was möglich ist, wenn sich die Bürger gegen ihre Regierung erheben und nicht klein bei geben. Beharrlichkeit, Einsatzbereitschaft und Mut waren und sind gefragt. Genausowenig, wie vorhersehbar war, dass diese Aufstände gelingen, also Erfolg haben würden, genausowenig wissen wir, ob daraus nun eine lebendige Demokratie erwächst. Wäre jemand auf den Gedanken gekommen, einer solchen Erhebung müsse eine Art Umerziehung vorausgehen oder pädagogische Beratung an die Seite gestellt werden?
Besonders erstaunlich ist eine solche Überlegung, wenn sie in Deutschland nach 60 Jahren Demokratie angestellt, wie es in der Grundeinkommensdiskussion der Fall ist. Die Mündigkeit dazu, der Freiheit gewachsen zu sein, wird von Kritikern wie durchaus auch von Befürwortern des bGEs immer wieder bezweifelt. Entsprechend besorgt schaut man darauf, was wohl passieren wird, wenn die Bürger mit den Möglichkeiten eines bGEs einmal wirklich konfrontiert sind. Würden diese Zweifel nur daran erinnern wollen, dass ein überstürztes Vorgehen in Sachen Einführung nicht zu empfehlen und eine Umsetzung des bGEs mit Bedacht vorzunehmen wäre, wären sie nichts anderes als Ausdruck gesunden Menschenverstandes. Sie reichen meist aber viel weiter, werden zu Zweifeln an der Demokratiefähigkeit (siehe z.B. hier, hier, unsere Kritik an den Nachdenkseiten sowie die Antwort eines CDU-Abgeordneten auf eine Anfrage bei Abgeordnetenwatch).
Damit wird die gegenwärtige politische Ordnung und die Möglichkeiten, die sie bietet, nicht nur unterschätzt, sie wird geradezu geleugnet. Selbstverständlich ist eine Demokratie immer nur so lebendig, wie ihre Bürger sie ernst nehmen, doch zu bezweifeln, dass wir für die Demokratie schon reif oder fähig seien, kommt einer Infantilisierug der Bürger gleich.
Jüngst hat sich Franz Segbers anlässlich eines Vortrags in Bremen („Vom protestantischen Arbeitsethos zu einer neuen Arbeitsethik“) ähnlich fragend zweifelnd geäußert, was wohl passiere, wenn das bGE eingeführt werde, ob das überhaupt wünschenswert sei. Der Vortrag enthält interessante Argumente gegen die vergangene sowie gegenwärtige Sozialpolitik und für ein bedingungsloses Grundeinkommen. Darin spricht er sich unter anderem für eine allgemeine Verkürzung der Erwerbarbeitszeit aus (siehe unsere Kritik hieran). Er äußert sich indes jedoch auch folgendermaßen (im Vortragsmanuskript auf S. 8):
„Dass ein Bedingungsloses Grundeinkommen ein erstrebenswertes Ziel für die gesellschaftspolitische Entwicklung sein soll, lässt sich aber nicht dekretieren. Hannah Arendt hatte früh davon gesprochen, dass der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgehen werde. Doch was dann? Es ist „die Aussicht auf eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist, also die einzige Tätigkeit, auf die sie sich noch versteht. Was könnte verhängnisvoller sein?…“
Was ist gemeint, was soll damit gesagt werden, ein bGE lasse sich als „erstrebenswertes Ziel“ nicht dekretieren? Die öffentliche Diskussion seit einigen Jahren zeigt gerade, dass ein Prozess der Meinungsbildung in Gang gekommen ist, um sich darüber Aufklärung zu verschaffen, worum es beim bGE geht. Ob es langfristig gewollt ist, wird sich erweisen müssen. Wer aber sollte es dekretieren, wenn nicht die Bürger selbst, sei es durch eine parlamentarische Entscheidung, sei es durch Volksentscheid? Ein Dekret über Köpfe der Bürger hinweg kann es nach Verfahren der parlamentarischen Demokratie nicht geben, denn dazu sind Mehrheiten notwendig. Manche mögen einwerfen, die sogenannten Hartz-Gesetze seien doch auch von oben den Bürgern übergestülpt worden. Das halte ich für einen Mythos. Wer über Jahre Erfahrung in der Grundeinkommensdiskussion gesammelt hat, weiß, dass der Geist der Hartz-Gesetzgebung breit verwurzelt ist, die Gesetzgebung also widerspiegelt, was als Konsens der Mehrheit gelten kann. An anhaltenden Protesten, wie wir sie in Nordafrika erleben, hat es gefehlt. Von Meinungsumfragen, mit denen manche zu zeigen glauben, dass gegen das Volk regiert werde, sollte man sich in dieser Sache nicht täuschen lassen, sie sind oberflächlich und methodisch mehr als umstritten.
Die von Franz Segbers zitierte Passage aus Hannah Arendts „Vita Activa“ gehört zu den Standardzitaten in der Diskussion um eine „Krise der Arbeitsgesellschaft“. Übergangen wird in der Verwendung des Zitats die im Original auf das Zitat folgende Passage, in der Arendt schreibt, ihr Buch biete keine Antworten, schlage aber eine „Art Besinnung“ vor (Arend, Vita Activa, Fischer Verlag 2003, S. 13). Eine Besinnung führt naheliegender Weise zugleich dazu, über Alternativen nachzusinnen. Durch diesen Nachsatz wird die kulturpessimistische Einschätzung Arendts zumindest abgeschwächt. Übersehen wird von Hannah Arendt (das Buch, „The Human Condition“, erschien zuerst auf Englisch 1958), dass gerade die Nachkriegszeit auch von einer Bewährung der Demokratie zeugt, also einer Grundlage des Zusammenlebens, die weiter reicht als die „Arbeitsgesellschaft“. Die politische Ordnung wurde, zumindest eindeutig in den westlichen pluralistischen Demokratien mit Berufung auf die Bürgerrechte – nicht auf Erwerbstätigenrechte – gestaltet und erhob die Souveränität des Volkes zu ihrer Legitimationsquelle (siehe auch „Das Menschenbild des Grundeinkommens…“). Arendts Analyse ist somit nicht nur verkürzt, sie ist in dieser Hinsicht sogar blind. Wer sich, wie Franz Segbers, auf diese Passage beruft, schleppt den Kulturpessimismus samt seiner Geringschätzung demokratischer Erfahrungen nunmehr in sechzig Jahren deutscher Demokratie mit. Dabei könnte er schlicht auf die tatsächlich bestehende politische Ordnung und das umfangreiche Engagement der Bürger hinweisen, um das Gegenteil von dem beweisen, was mit dem Zitat belegt werden soll.
Weiter heißt es an derselben Stelle bei Segbers:
„…Ähnlich auch Erich Fromm, der bereits 1966 ein garantiertes Einkommen für alle forderte. Der Übergang – so Erich Fromm – könne nur gelingen, wenn die Menschen durch „psychologische, philosophische, religiöse und erzieherische“ [Kursivierung SL; bei Fromm heißt es „erziehungswissenschaftliche“] Anstrengungen unterstützt werden.“
Was ist unter dieser „Unterstützung“ zu verstehen? Ruht sie auf Freiwilligkeit oder sollte sie belehrend anleitenden Charakters sein? Das bleibt unklar, dabei ist dieser Unterschied keine Kleinigkeit, er ist wesentlich, es ist der zwischen Hilfs-Angebot und Bevormundung bzw. Zwangshilfe. Erstaunlich ist diese Haltung, weil einer Einführung des bGEs ohnehin, wie nun schon seit Jahren, eine öffentliche Diskussion um Für und Wider vorausgeht. Sie ist mehr als nur eine argumentative Klärung, sie ist eine praktische Auseinandersetzung darum, ob ein solcher Weg gegangen werden soll oder nicht. Gerade diese Auseinandersetzung ist eine Vorbereitung auf die Welt mit bGE und sensibilisiert für die Möglichkeiten und Herausforderungen. Für diejenigen, die dennoch in ein „Loch“ fallen würden, die der Hilfe und Unterstützung bedürften, für sie wird gelten, was heute in der Regel gilt: Wer Hilfe benötigt, sucht Rat. Dort, wo zum Schutz anderer, z.B. des Kindeswohls, Interventionen staatlicher Einrichtungen notwendig sind, werden sie auch zukünftig möglich sein. Wozu also diese pädagogisierende Unterstützung? Entweder sind die Bürger mündig oder sie sind es nicht, gilt ersteres, sind sie demokratiefähig, gilt letzteres, sind sie es nicht.
Im Vortrag geht weiter:
„…Auch der Ökonom John Maynard Keynes, der schon 1928 eine Produktivitätsentwicklung prognostizierte und eine wöchentliche Arbeitszeit von weniger als 15 Stunden erwartete, fragte besorgt: „Müssen wir nicht mit einem allgemeinen ‚Nervenzusammenbruch’ rechnen?“
Diese Einschätzung unterschätzt, wie sehr Menschen schon heute ihr Leben in die Hand nehmen und es unter besseren Bedingungen, wie sie ein bGE schüfe, noch mehr tun könnten. Ein „Nervenzusammenbruch“ würde wohl dort eintreten, wo jemand bislang ein außerordentlich fremdbestimmtes Leben geführt hat, das bGE hingegen ihm demgegenüber mehr Selbstbestimmung abverlangt. Ein solcher Zusammenbruch wäre vor allem heilsam und im Sinne dessen, wovon die Demokratie lebt: mündiger Bürger.
Der Vortrag fährt fort:
„Erwerbsarbeit ist nur ein Faktor, der heute Menschen ausbeutet und entfremdet: Bildzeitung, Fernsehprogramme, Kulturevents, Urlaubsanimation. Fast jede Kontaktaufnahme mit der Wirklichkeit verstärkt heute eine konsumistische Lebenspraxis, die die Enteignung eigenen Fühlens, Denkens, Wollens befördert. Was fangen Menschen mit der ermöglichten Freiheit an? Wozu führt die Freiheit vom Zwang zur Erwerbsarbeit? Werden sie der kapitalistischen Konsummaschinerie ausgeliefert? Geraten sie aus den Zwängen entfremdeter Erwerbsarbeit in die neuen Zwänge der Konsumindustrie?“
Wie Franz Segbers diese Einschätzung – das gilt für alle kulturpessimistischen Urteile – empirisch belegen will, ist mir ein Rätsel. Zum einen unterschätzt er meines Erachtens die Resistenz gegen Konsumangebote, zum anderen übersieht er, dass Konsum heute durchaus auch etwas mit Status zu tun hat. Hinzu tritt noch die kompensatorische Bedeutung von Konsum als Entschädigung für Unzufriedenheit im Beruf. Getragen wird dies alles von einem Selbstverständnis als Gemeinwesen, dass dem Erwerbserfolg große Bedeutung dabei zumisst, die Stellung des Einzelnen zu bestimmen. Solange ein Gemeinwesen auf den Erwerbserfolg derart großen Wert legt, ist der demonstrative Konsum also naheliegend. Unterschätzt wird von ihm ebenso, wie häufig in Grundeinkommensdiskussionen, welche Bedeutung auch heute ein berufliches Ethos hat, das gut zu machen, was man macht. Es findet sich über Qualifikationsniveaus hinweg und ist Grundlage von Leistungserbringung. Von Ausbeutung und Entfremdung so undifferenziert zu sprechen klärt nicht auf, eher vernebelt es den Blick. Aleine der Hinweis auf das umfangreiche Engagement jenseits erwerbsförmiger Tätigkeiten bezeugt etwas anderes. Jugendliche haben heute viel früher ein Sensorium für Authentizität und Autonomie, sind viel weniger fundamentalistisch in politischen Fragen als noch Generationen vorher. Wer sich nach Einführung eines bGEs zuerst einmal orientieren müsste und eine „Auszeit“ bräuchte, hätte die Möglichkeit. Auch aus einer „konsumistischen Lebenspraxis, wo sie denn anzutreffen wäre, muss der Einzelne sich selbst hinausführen, ob mit oder ohne Hilfe. Das bGE würde ihn, folgt man einmal der Behauptung Segbers‘, darin gerade bestärken, nicht schwächen. Franz Segbers beschwört hier eine Übermacht, wie man sie sonst nur von den „TINA“- (There is no alternative) und Sachzwanganhängern kennt (anders noch klingt es in seinem Papier „Bürgerrechte, soziale Rechte und Autonomie. Weiterentwicklung des Sozialstaates
durch ein Grundeinkommen“, siehe insbesondere den Schlusspassus).
Gegen Ende des Vortrags heißt es dann:
„Es kann also realistischerweise nicht darum gehen, so schnell wie möglich ein Grundeinkommen umfassend einzuführen. Vielmehr müssen heute Alternativen in den politischen Auseinandersetzungen formuliert und um diese gekämpft werden. Erst dann ist die menschenrechtlich begründete Forderung nach einer sozialen Sicherung aller auch ohne Erwerbsarbeit keine Traumtänzerei, sondern eröffnet in der politischen Debatte eine Alternative zur Zuspitzung der Hartz IV-Arbeitsgesellschaft und weist den Weg in eine humanere und gerechtere Gesellschaft, die Platz für alle hat.“ (S. 10)
Worin besteht hier der Gegensatz? Trivialerweise wird es ein bGE nicht von heute auf morgen geben, das hat mir den notwendigen Umstellungen zu tun, die auf den Weg gebracht werden müssen. Weshalb wird das bGE erst dann eine ernstzunehmende Forderung, wenn Alternativen im Gegenwärtigen erkämpft worden sind? Wo der politische Wille ist, ein bGE in einer weitreichenden Variante einzuführen, ist auch ein Weg. Entweder haben wir heute schon mündige Bürger, dann müssen politische Veränderungen sich an ihnen messen lassen.
Wer es mit der Demokratie ernst meint, kann nur einen Weg sehen, um das bGE einzuführen: entweder parlamentarisch oder durch Volksentscheid. Andere Wege sind verschlossen. Dass es zu einer solchen Entscheidung nur kommen wird, wenn der politische Wille gegeben, eine Mehrheit gefunden ist, ist trivial. Da nun eine solche Mehrheit erst noch gewonnen werden muss, bedarf es weiterhin der öffentlichen Auseinandersetzung – mit dem bGE geht es um eine res publica, eine öffentliche Angelegenheit. Genau diese öffentliche Auseinandersetzung warf bislang all die Fragen und Einwände auf, die die bGE-Befürworter beantworten müssen. Franz Segbers Einwände verwundern vor diesem Hintergrund.
Mittlerweile liegen außerordentlich differenzierte Argumente vor. Diese Auseinandersetzung ist aber nicht nur Motor des Wandels, sie ist selbst schon Wandel und bereitet auf eine mögliche Welt mit Grundeinkommen vor. Eindrücklich wird das an Zuschriften, die wir erhalten und Wortmeldungen nach Vorträgen, in denen Menschen davon sprechen, wie sehr alleine schon die Diskussion um das bGE Auswege aus der gegenwärtigen Misere weist. An der Frage nach dem Wie kann es also gar keine Zweifel geben und doch ist die Neigung groß, zu „erzieherischen“ Anstrengungen greifen zu wollen. Die Bürgerrechte gelten schon heute bedingungslos, will sagen, dafür muss kein Bürger irgendwelche besonderen Leistungsausweise erbringen oder Zertifikate vorlegen. Das sollte Grund genug sein, im bGE eine angemessene Antwort zu erkennen, die allen Bedenken den Boden entzieht.
Sascha Liebermann