Begegnung der Bürger – ein Erfahrungsbericht vom Unterschriftensammeln in der Schweiz

In Deutschland wird die Frage nach einer Stärkung plebiszitärer Elemente, direktdemokratischer Verfahren, in jüngerer Zeit wieder mit mehr Interesse aufgenommen. Das begann schon im Sommer 2010, bevor die Volksinitiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen in der Schweiz lanciert wurde. Doch von einem Durchbruch, einer Etablierung des Themas auch im Rahmen der Bundestagswahl kann keine Rede sein. Groß ist die Verwandtschaft zwischen Bedingungslosem Grundeinkommen und Direkter Demokratie (siehe unsere Kommentare hier und hier), wie groß möchte ich anhand meiner Erfahrungen veranschaulichen, die ich beim Sammeln von Stimmen in der Schweiz gemacht habe. Zwar konnte ich nur wenige Stunden teilnehmen, doch diese Erfahrung war eindrücklich, begeisternd und befremdend.

Das Befremdende sei zugleich erwähnt. Als Deutscher, der nicht in der Schweiz lebt, liegt es nahe sich zu fragen, ob man denn zum Sammeln legitimiert ist. Wer nicht stimmberechtigt ist, hat auch die Folgen der Abstimmung nicht zu tragen, er hat sie allenfalls zu erdulden. Das zeigt sich beim Sammeln sehr deutlich, denn es gilt, die Bürger für die Initiative zu gewinnen, dass also über die Einführung eines BGE abgestimmt werden kann. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ob jemand stimmberechtigt ist oder nicht, ist die erste Frage, die von Bedeutung ist. Nicht unbedingt für den Unterzeichner, der weiß es, aber für den Sammler. Außerdem gilt es, das Bedingungslose Grundeinkommen knapp zu erläutern oder Einwänden zumindest in Ansätzen zu begegnen. Da spielt die Binnenperspektive eine große Rolle, ein wenig über die Sozialwerke Bescheid zu wissen und die Diskussionen, die es darum gibt. Alltagssorgen sind beim Sammeln präsent, wenn um Unterschriften geworben wird und diese Sorgen sind nicht unabhängig von den Lebensverhältnissen und Selbstverständnissen in einem Land. Ich wurde nie gefragt, ob ich stimmberechtigt bin, obwohl ich sprachlich auffiel. Dennoch, vielleicht gerade deswegen, blieb die Grenze deutlich.

Wer Stimmen sammelt, muss auf andere zugehen, er will etwas von ihnen, ihre Unterstützung. Manchmal kamen andere auf uns zu, weil sie von der Volksinitiative gehört haben, meist aber war es nicht so. Auf andere zuzugehen, ganz gleich, wer einem entgegenkommt, verlangt, sich zu öffnen, Vorurteile fahren zu lassen. Denn, erreicht werden sollen ja alle Bürger, jeder könnte dafür sein und auch, wer dagegen ist, könnte sich noch anders entscheiden. Und alle Bürger sind aufgefordert, sich ein Urteil zur Sache zu bilden, denn die Gemeinschaft der Bürger muss die Entscheidung tragen, ganz gleich, wie sie ausgeht. Das unterscheidet das Unterschriftensammeln von denen auch in Deutschland verbreiteten Formen, die für bestimmte Zwecke oder Ziele durchgeführt werden, ohne dass es um ein praktisch folgenreiches Votum geht. Nun geht es zwar bislang erst noch darum, die Stimmen dafür zusammenzubekommen, damit es eine Volksabstimmung geben kann. Das Ziel aber ist klar: eine Abstimmung zu erwirken. Damit ist sofort das Wir derer, die stimmberechtigt sind, die vollgültige Bürger sind, virulent. Was hier theoretisch klingen mag, ist ganz praktisch gemeint und tritt einem mit ganzer Kraft entgegen. In jeder Begegnung, jedes „Haben Sie schon für die Volksinitiative unterschrieben?“ oder „Möchten Sie für die Volksinitiative unterschreiben?“ ist das Wir angesprochen und aufgerufen. Das Wir, aus dem der Sammler spricht, und das Wir derjenigen, die für Unterschriften gewonnen werden sollen.

Die Begegnung unter Gleichen in bestechender Einfachheit und Direktheit, das ist eine Erfahrung des Sammelns, die begeisternd war. Im Sammeln erweist sich, wie gelebte Demokratie aussehen kann, für jeden erfahrbar darin, angesprochen zu werden und Stellung beziehen zu müssen angesichts der Volksintiative. Es zeigte sich auch drastische Ablehnung. „Sicher nöd“ schallte es mir entgegen. Bestechend ist der klare Sinn für das Volk, die stimmberechtigten Bürger. Einer sagte mir, er sei skeptisch, sehe viele Nachteile, unterschrieb dann aber mit den Worten: Darüber solle das Volk entscheiden. Das ist gelebte Demokratie, dem Volk zuzutrauen, entscheiden zu können und ganz gleich bei welchem Ausgang, solange er nicht den Bestand der Demokratie selbst gefährdet, die Entscheidung zu tragen. Bei uns hingegen wird ja gerade dies manchmal gegen Volksabstimmungen vorgebracht, dass auch unangenehme Entscheidungen dabei herauskommen können. Gelebte Mündigkeit und gelebtes Vertrauen bei aller Vorherrschaft des Erwerbsideals auch in der Schweiz. Eine bestechende Erfahrung.

Sascha Liebermann