Die Zuwanderung von Flüchtlingen, die in Kriegs- oder Hungergebieten an Leib und Leben bedroht sind und von denen niemand wissen kann, ob sie bleiben werden oder nicht – auch sie selbst wissen das zu ihrem eigenen Leidwesen nicht;
die Zuwanderung von Asylbewerbern, die in ihren Heimatländern aufgrund ihrer von der Mehrheitskultur abweichenden Lebensweise – sei dies eine religiöse Abweichung wie bei den Christen im Iran oder den Schiiten in Saudi Arabien, sei es eine sexuelle Abweichung wie bei Homosexuellen in Ägypten, seien es sonstige kulturelle Abweichungen wie bei den Uiguren in China – an Leib und Leben bedroht sind und bei uns um Schutz und Aufnahme ersuchen;
die Zuwanderung von jungen Menschen aus Europa und der ganzen Welt, die sich bei uns ein besseres Leben erhoffen und deshalb gern hier bleiben wollen
– diese ganze Entwicklung wirft die Frage nach der Identität Deutschlands, nach der Identität eines jeden Deutschen auf. Vielen macht das Andrängen dieser Frage Angst. Wenn dann noch die zukunftseröffnende Idee des Bedingungslosen Grundeinkommens ins Spiel gebracht wird, ist schnell das Ende jeder offenen Debatte erreicht. Deshalb ist es sinnvoll, sich Klarheit zu verschaffen über den Zusammenhang von Identität, politischer Nation und kulturellem Selbstverständnis.
Charles Taylor, ein Philosoph aus dem Einwanderungsland Kanada, hat seit vielen Jahren immer wieder einen interessanten liberalen Blick auf diese Problematik geworfen. Jüngst findet sich ein aufschlussreicher Aufsatz in der Zeitschrift Mittelweg 36, in dem Taylor erneut und mit Bezug auf die gegenwärtige Situation in Europa und insbesondere in Deutschland sein Konzept des Mulitkulturalismus erläutert.
Wichtig ist daran, und das wird in Taylors Darlegung vielleicht nicht ganz deutlich, dass wir lernen müssen, einen klaren Unterschied zu machen, der bisher oft nicht gesehen wird: den zwischen politscher Nation und Identität einerseits und Kultur je besonderer Gruppen und Gemeinschaften andererseits. Dies bedeutet, dass wir im Hinblick auf jeden Einzelnen unterscheiden müssen zwischen seiner Identität als Bürger und damit Angehörigen der politischen Nation Deutschlands einerseits und seiner Identität als Angehörigen einer bestimmten kulturellen Gruppe oder Gemeinschaft – sei diese religiös, sprachlich, sexuell, ethnisch oder sonstwie bestimmt. Bürgersein erschöpft sich in diesem Verständnis nicht darin, sich formal an das geltende Recht und die Gesetze zu halten und dem Land ansonsten innerlich den Rücken zu kehren. Das Schwierige ist nämlich, dass, wie Taylor zu Recht formuliert, ‚demokratische Staaten auf eine gemeinsame Identität angewiesen sind‘ (S. 16). Damit erweist er sich als skeptisch gegenüber dem von Dolf Sternberg ins Spiel gebrachten und von Jürgen Habermas propagierte Verfassungspatriotismus.
Thomas Mann formulierte in seiner Roman-Tetralogie „Joseph und seine Brüder“: „Das Gesetz bindet auf äußerlich lehrhafte Weise; innere Bindung bewirkt nur der Zauber.“ Damit spricht er das gleiche Problem an. Denn als Bürger sind wird zwar vor allem durch unsere rechtlich geregelten Rechte und Pflichten bestimmt, aber eben auch durch eine praktische Bindung an unsere politische Gemeinschaft. Im Ausland sind wir eben als Ausländer nicht für die Politik unseres Urlaubslandes verantwortlich, wohl aber müssen wir zu Recht gewärtig sein, uns für das Handeln unseres eigenen Landes rechtfertigen zu müssen – und das ist nicht lediglich zufälliger- und überkommenerweise so, sondern für das Bestehen unserer politischen Gemeinschaft konstitutiv. Taylor: „Eine Demokratie lebt also davon, dass die Bürgerinnen und Bürger ihren eigenen Staat für etwas Besonderes halten, ihm auch affektiv in besonderer Weise verbunden sind.“ (S. 16 f.)
Lange Zeit war die Identität des Deutschen als politischen Bürgers im Sinne dieses Besonderen negativ bestimmt: Wir Deutschen sind politisch verantwortlich für die Verbrechen des Nationalsozialismus. Diese negative Bestimmung bei allen Verwerfungen positiv gewendet zu haben durch Verantwortungsübernahme ist ein Erfolg unserer Nation und diese Verantwortung wird unabdingbar stets Moment unserer nationalen Identität sein. Zugleich trifft zu, dass eine politische Gemeinschaft sich dauerhaft nur durch die „Ausrichtung auf eine offene Zukunft“ (Taylor, S. 21) bestimmen kann, dass sie also die Frage: ‚Wer wollen wir sein?‘, zukunftsorientiert beantworten muss. Nur in der Beantwortung dieser Frage kann die praktische Bestimmung der Identität gelingen, für die heute unabweisbar ist, dass sie „sowohl auf die Anerkennung kultureller Differenz als auch auf Integration zielen“ muss (S. 21). Das bedeutet, dass wir einerseits gerade angesichts der zunehmenden kulturellen Vielfalt in unserem Land einen Zustand herbeiführen müssen, den Theodor W. Adorno 1951 in den Minima Moralia beschrieb „als den, in dem man ohne Angst verschieden sein kann.“ Und in Anlehnung an Adorno kann man sagen, attestiert man dem Zuwanderer mit islamischer Religion und arabischer Kultur, er sei genau wie der hiesige katholische Bayer oder protestantische Niedersachse oder agnostische Hesse, während er es doch nicht ist, so tut man ihm Unrecht an und verhindert was man anstrebt: seine Integration. Andererseits aber, auch wenn es gerade nicht darum geht, die Kultur besonderer Gruppen in der politischen Identität als Deutsche aufgehen zu lassen, so muss doch ein Ziel geteilt werden: dem Ohne-Angst-verschieden-sein-Können dauerhaft einen es ermöglichenden Rahmen zu geben. Dieser Rahmen kann aber nur Bestand haben, wenn man sich – in aller sonstigen Verschiedenheit – mit ihm identifiziert: als Staatsbürger. „Von daher heißt das Ziel für Einwanderungsgesellschaften in politischer Hinsicht notwendigerweise Staatsbürgerschaft“, so Taylor (S. 20) zu Recht. (Welche Probleme es bereitet, wenn man dieses Ziel etwa durch die Möglichkeit einer doppelten Staatsbürgerschaft zu umgehen versucht, zeigt der Fall Deniz Yücel, für den die Bundesrepublik ganz anders einstehen könnte, wenn er eben nicht zugleich türkischer Staatsbürger wäre.)
Was könnte nun das Positivum sein, mit dem ein deutscher Staatsbürger als Deutscher sich identifiziert – gleich ob er Urbayer, sorbischer Sachse, gebürtiger Rheingauer, türkischstämmiger Duisburger, in Maschhad geborener Hesse, muslimischer Sauerländer oder dänischsprechender Schleswig-Holsteiner ist? Was kann die Idee sein, die in der praktischen Gestaltung der Zukunft sich realisiert und zugleich das Eigene und Besondere unserer politischen Gemeinschaft ausmacht? Was kann dasjenige sein, von dem der Zauber ausgeht, der die innere Bindung an unsere politische Gemeinschaft bewirkt? Könnte es vielleicht dasjenige sein, das momentan, wenn es in Verbindung mit Zuwanderung thematisiert wird, das Ende jeder offenen Debatte bedeutet: die Zukunft eröffende und Zukunft gestaltbar machende Idee des Bedinungslosen Grundeinkommens?
Die Idee des Bedingungslosen Grundeinkommens teilt mit der Staatsbürgerschaft das Moment des praktisch-solidarischen Einstehens füreinander bei gleichzeitiger Anerkennung der Verschiedenheit und Würdigung der Besonderheit eines Jeden – ohne Gleichgültigkeit und zugleich ohne Bevormundung.
Ach, Europa… Ja, gerade scheint der Pulse of Europe wieder kräftiger zu schlagen – und das ist gut so. Aber eine europäische Staatsbürgerschaft gibt es noch nicht einmal formal, „auf äußerlich lehrhafte Weise“, geschweige denn, dass ihr ein Zauber innewohnte. – Also fangen wir mit dem Großen besser klein an: ein Bedingungsloses Grundeinkommen in Deutschland würde nicht nur dem universalisierten Staatsbürgerstatus seine materiale Basis geben, sondern auch der politischen Identität einen Kristallisationskern, der mit der Würdigung kultureller Vielfalt für eine reichhaltige Zukunftsgestaltung einen eröffnenden Rahmen aufspannte.
Thomas Loer