Bildung sei für ein Land, das arm an Rohstoffen ist, die Grundlage seines Wohlstands. Solche und ähnliche Weisheiten werden heute von jedem aufgesagt, der seine Lehren aus PISA und anderen Bildungsmessungsstudien gezogen haben will und der sich dazu bekennt, uns aus unserer Misere einen Weg zu weisen. Wer wollte dem im allgemeinen widersprechen?
Doch bei allem Bekenntnis liegt der Teufel im Detail. Was sollen die Maximen sein, nach denen diese Bildung, in der unsere Zukunft liege, ermöglicht wird? Da sie allzuleicht als Heilmittel betrachtet wird, mit dem auch über die Misere derer behoben werden könne, die heute ohne Bildungsabschluß bleiben, ist Besonnenheit unerläßlich. Statt, einer Leerformel gleich, nach Bildung zu rufen, müssen wir uns fragen, welche Bildung wir meinen und was der Grund dafür ist, daß manche ihrer ermangeln.
Bildung setzt eine Bereitschaft, sich zu bilden, voraus. Damit ist nichts Großartiges gemeint, keine bildungsbürgerlichen Ambitionen oder dergleichen, sondern lediglich die Grundlage jeglichen Bildungsprozesses: Neugierde. Darauf hinzuweisen, könnte man für banal halten, doch angesichts der Reformen im Bildungswesen, die zwar von „Bildung“ reden, aber Trichterpädagogik fördern, muß daran erinnert werden. Die Neugierde, die zum einen Bildung erst ermöglicht, zum anderen durch Bildung bestärkt und gefestigt wird, bedarf eines fördernden und ermunternden Bildungswesens (Siehe Sascha Liebermann „Erfahrung ermöglichen oder Wissen vermitteln?„). Nur, wenn es dem Einzelnen die Chance gibt, Erfahrungen zu machen, Unbekanntes in seinen vielfältigen Qualitäten zu erkunden, nur dann wird er ernst genommen, dann wird seine Neugierde als Lebenshaltung bestärkt und gefestigt werden.
Das Bildungswesen allerdings kann nur Möglichkeiten schaffen, es kann das Gelingen nicht garantieren, ganz gleich, ob in der Schule, an der Universität oder sonstwo. Will der Einzelne nicht, läßt sich Bildung nicht erzwingen. Es muß zwar möglich sein, ihn zur Räson zu rufen, ihm seine Verantwortung bewußt zu machen und ihm dann dabei zu helfen, etwaige Schwierigkeiten zu bewältigen. Wo er dennoch nicht dazu bereit ist, stößt das Bildungswesen an seine Grenze. Daran ändern auch all die Bildungsprogramme nichts, die Gutes beabsichtigen, aber statt Pluralität zu ermöglichen Zentralisierung befördern – wie die gegenwärtigen Reformen des Bildungswesens.
Selbständigkeit und Verantwortung werden zwar in Sonntagsreden beschworen, in Sachen Bildung jedoch werden sie den Neugierigen tatsächlich – auch Schülern wie Studenten – allzuselten zugestanden. Es soll nicht mehr ausreichen, Erfahrungen eines Gelingens, damit kehrseitig auch eines Scheiterns, zu ermöglichen. Das Gelingen soll garantiert werden, deswegen gilt idealerweise auch: Es darf keine Studien- oder Schulabbrecher geben. Wir erleben dies gerade mit der Einführung der Bachelor-Studiengänge an den Universitäten, ihr Zweck ist, die Abbrecherquote zu verringern und die Absolventenzahl zu erhöhen – ist beides ein Selbstzweck? Abgedichtet soll der Bildungsprozeß werden, damit bloß keiner zurückbleibt – als könne das überhaupt verhindert werden. Fürsorge paart sich in diesen Fragen allzuoft mit beinahe totalitären Bestrebungen, Bildungsdesinteresse notfalls mit Zwangsmaßnahmen beizukommen. Als sei es nicht legitim, an Bildung desinteressiert zu sein.
Aus diesem Grund, den totalitären Bestrebungen auf der einen Seite und der Verleugnung der Bildungsbereitschaft des Einzelnen auf der anderen, mußte zuvor daran erinnert werden, daß Bildung Bildungsbereitschaft voraussetzt. Woher kommt sie, weshalb ist sie so unterschiedlich ausgeprägt?
Die Antwort hierauf führt uns zu einem blinden Fleck in der Diskussion, dessen Bedeutung im Leben des Einzelnen allzuoft geringschätzt wird: die Familie. Das Scheitern vergangener Bildungsvorhaben könnte uns lehren, daß Bildungsbereitschaft nicht ohne die Familie zu denken ist. Wo Eltern ihren Kindern emotionale Sicherheit und Verläßlichkeit geben und Erfahrung ermöglichen, wird Neugierde gefördert und gefestigt. Wo dies nicht geschieht, kann ein Bildungswesen, das den Einzelnen nach seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten fördert, bestenfalls ein Gegengewicht bilden. Aber, gegen die Eltern ist das nicht zu machen.
Wenn behauptet wird, der Grund für Langzeitarbeitslosigkeit oder dauerhaften Sozialhilfebezug sei mangelnde Bildung, ist das naiv und realitätsfremd. Es soll nicht sein, was nicht sein darf: Daß in unserer Mitte Menschen leben, die eine schwierige Lebensgeschichte haben, eine Lebensgeschichte, die es ihnen kaum möglich macht, Bildungschancen zu ergreifen. Sollten wir sie ihnen deswegen aufdrängen, sie in Programme stecken und mit Kontrollen überziehen? Möglichkeiten können wir eröffnen, wo diese nicht ergriffen werden, sollten wir dies anerkennen. In der Regel werden Bildungschancen heute schon ergriffen, geschieht es nicht, gibt es dafür gute Gründe. Möglichkeiten schaffen, Hilfsangebote unterbreiten ist etwas anders als Bildungs- und Beratungszwang.
Statt weiter eine auf Kontrolle und Existenzdruck setzende Sozialpolitik zu betreiben, statt eine Bildungspolitik durchzusetzen, die sich kurzfristig an der Beseitigung der Arbeitslosigkeit orientiert, sollten wir es den Einzelnen zugestehen, Freiräume nach ihrem Dafürhalten freiheitlich zu nutzen.
Ein bedingungsloses Grundeinkommen, das dem Einzelnen die Freiheit gäbe, was auch immer er für richtig hielte, zu tun, verschaffte Neugierde als Grundlage von Bildung die angemessene Stellung. Es würde aber auch anerkennen, daß Bildung nicht für alle ein hohes Gut ist: Wer nicht will, muß nicht.
Sascha Liebermann