…diese Meldung ging in den letzten Tagen durch die Medien z.B. in der tagesschau, Welt online, FAZ online, Tagesspiegel, Nachdenkseiten und vielen. Einen Auszug aus dem Bericht finden Sie hier.
Es ist erstaunlich, wie einmütig sich die Kritiker des Betreuungsgelds auf die Studie beziehen, ohne einmal innezuhalten. Nachfolgend sei eine Passage aus dem Tagesspiegel zitiert, er über die Studie berichtet:
„…Das Betreuungsgeld erweise sich als besonders attraktiv für Familien, „die eine geringe Erwerbsbeteiligung aufweisen, durch eine gewisse Bildungsferne gekennzeichnet sind und einen Migrationshintergrund haben“…Wie oft in der Sozialforschung: Ja – aber. Entkleidet man die Studie ihres wissenschaftlichen Beiwerks, erweist sich vieles als Binsenweisheit. Niedriger Bildungsabschluss, prekäre Jobs und Migrationshintergrund lassen sich auf einen schlichten Nenner bringen: Solche Eltern sind selten reich. Für ihre Haushaltskasse sind 150 Euro pro Kind viel. Für Bessergestellte liefert die gleiche Summe naturgemäß nicht das Hauptmotiv, ihr Kleinkind daheim zu behalten – oder sie geben es nur sehr ungern zu…“
Könnte die „Binsenweisheit“ auch ein Binsenvorurteil sein? In dieser Passage fällt die ausschließlich, wenn man so will, materialistische Deutung auf, sich gegen frühe Fremdbetreuung zu entscheiden, nach dem Motto: „Wo es Geld gibt, das ich nicht habe, greife ich zu.“ Diese Entscheidung von Eltern mit einer „geringen Erwerbsbeteilgung“, einer „gewissen Bildungsferne“ und „Migrationshintergrund“ könnte ebenso anders erklärt werden. Gerade, wo Geld knapp ist, erlaubt das Betreuungsgeld den Eltern nun, zu tun, was sie sonst nicht tun könnten – aber vielleicht schon lange tun wollten: sich selbst um ihre Kinder zu kümmern. Das Betreuungsgeld wird höchstens bis zum 36 Lebensmonat gezahlt, es geht hier also um kleine Kinder, die noch nicht einmal reif für den Kindergarten sind. In den Medien spielt die Entscheidung für das Zuhausebleiben keine Rolle, obwohl die Befunde der Bindungsforschung, was die U3-Betreuung angeht, in eine andere Richtung weisen, als es die vorbehaltlose Befüwortung, die den Ausbau trägt, wahrhaben will. Exemplarisch sei hier auf zwei Veröffentlichungen vewiesen, ein Interview mit Lieselotte Ahnert “Das bedeutet für Kinder Stress” und ein Interview mit Karl-Heinz Brisch “Das Krippenrisiko”.
Für die Entscheidung der Eltern bzw. eines Elternteils, zuhause zu bleiben, muss noch eine weiterer Aspekt in Betracht gezogen werden. In den von der Studie untersuchten Milieus ist der Stellenwert von Erwerbstätigkeit für Frauen womöglich nicht so stark mit der Sinnfrage für das eigene Leben verbunden, wie es für andere Milieus, besonders stark unter Akademikern, der Fall ist. Während unter Akademikern das Zuhausebleiben zunehmend eher negativ besetzt ist, gilt das für andere Milieus, vor allem traditionalere, nicht ohne weiteres.
Eine weitere Passage aus dem Tagesspiegel macht auf eine methodische Schwäche statistischer Studien aufmerksam. In der Studie wurden Eltern befragt, dabei wurde offenbar – so klingt es nachfolgend – standardisiert vorgegangen und mit statistischen Verfahren ausgewertet. Dabei treten folgende Probleme auf:
„…Außerdem tut sich Statistik oft schwer mit der klaren Unterscheidung von Ursache und Wirkung. Die gleiche Elterngruppe, die in der Dortmunder Studie auf das Betreuungsgeld schwört, findet nach dieser aber auch schwerer einen Betreuungsplatz. Ob zuerst der Frust kam oder sofort der Blick aufs Konto, ist aus den Daten aber nicht ablesbar. Insgesamt nannten 13 Prozent aller Befragten das Geld als Motiv gegen die Kita – was mit den 87 Prozent anderen war, bleibt in den vorliegenden Tabellen ebenfalls unklar.“
Die Frage, die statistische Studien nicht beantworten können, ist, wie hängen die drei genannten Merkmale (siehe oben) denn nun genau miteinander zusammen? Da nur Korrelationen festgestellt werden, der sinnlogische Zusammenhang jedoch nicht konkret bestimmt werden kann, wäre zumindest Vorsicht angebracht, vorschnelle Schlüsse zu ziehen. Ebenso schwer, wenn nicht noch schwerer, wiegt die Qualität der Daten. Standardisierte Befragungen erlauben keinen Einblick in die Prozesse der Entscheidungsfindung und ihrer Deutung durch die handelnden Individuen selbst (einen Einblick in das Problem erlaubt der am Ende des Berichtsauszugs abgedruckte Fragebogen). Erst auf der Basis solcher Daten, die das erlauben, wie z.B. nicht-standardisierten offenen Interviews, kann man in Erfahrung bringen, worin handlungsleitende Überzeugungen bestehen, die wie ein innerer Kompass Entscheidungsprozesse leiten, ohne dass sie den Individuen bewusst wären (siehe auch hier).
Abgesehen von den methodischen Anmerkungen zur Deutung der Entscheidung von Eltern und zur Datenbasis, fällt in der Berichterstattung eines besonders auf. Sich gegen frühe Fremdbetreuung zu entscheiden, wird vor allem als Problem betrachtet, nicht aber als Ausdruck eines klaren Empfindens für den Vorrang von Familie vor Erwerbstätigkeit. Das muss dann nicht verwundern, wenn es ohnehin nur, wie auf S. 3 der Studie zu lesen ist, um die Bekämpfung sozialer Ungleichheit durch Bildung geht. Was zählt da schon die Eigendynamik von Familie.
Siehe auch „Europas K(r)ampf mit den Babys“
Update: Siehe auch „Ein Fall von Tendenzforschung“ in der FAZ.
Sascha Lieberman