„Wir sollten wieder Tagträume im Büro haben“ – Über missverstandene Selbstverwirklichung und Muße…

…darüber sprach das Schweizer Fernsehen SRF mit dem Arbeitspsychologen Theo Wehner.

Besonders interessant sind zwei Passagen. Die erste beschäftigt sich mit dem Streben nach Selbstverwirklichung, das heute eine so bedeutende Rolle spiele:

SRF: „Warum überbeanspruchen wir uns so sehr? Die Konsequenz ist ja, dass wir vielleicht irgendwann krank werden.“
TW: „Heute haben wir als Ziel, uns in der Arbeit selbst zu verwirklichen. Wenn das jeder macht, frage ich mich wirklich ganz ernsthaft, wie wir dann noch zusammenarbeiten können. Wenn sich jede Medizinerin, jeder Mediziner im OP selbst verwirklichen will, dann möchte ich nicht Patient sein.
Wir haben eine enorme Ich-Orientierung in der Gesellschaft. Gleichzeitig haben wir an den Arbeitsplätzen zunehmend die Notwendigkeit zur Wir-Orientierung. Und das Versprechen zur Selbstverwirklichung kollidiert mit diesen zwei unterschiedlichen Anforderungen.
Von daher sprechen manche sogar von einer interessierten Selbstschädigung. Das ist ein holpriger Begriff, heisst aber: Die Selbstschädigung wird nicht mehr als etwas Gefährliches angesehen, sondern die Überstunden, die ich mache, die Wochenendarbeit, die ich leiste, die doch noch zwei Stunden abends dranhängen, das entspricht meinem Interesse. Dafür nehme ich die Selbstgefährdung in Kauf.“

Selbstverwirklichung im eigenen Tun, in der Arbeit ist heute hoch im Kurs und wird nicht selten so verstanden, als könne sie gelingen, ohne sich auf eine Sache, eine Aufgabe, ein Gegenüber einzulassen. Dieses Verständnis von Selbstverwirklichung ist aber eines, das in sich selbst kreist und sich die Welt zu Diensten macht, statt der Welt zu dienen und dadurch Erfahrung zu machen. Wer Erfahrung machen will, muss sich einlassen, er muss zuerst einmal von sich absehen, um sich der Sache bzw. dem Gegenüber zuwenden zu können. Diesen Zusammenhang scheint mir Theo Wehner hier vor Augen zu haben.

Die starke Orientierung am Ich zeigt sich darin, dass Zusammenhänge vergessen werden, die gerade Abhängigkeiten von anderen bezeugen, auf die wir angewiesen sind. Das zeigt sich im schwachen Bewußtsein davon, wie sehr unser Zusammenleben von den schlicht hingenommen Leistungen in Haushalten, den sogenannten Care-Tätigkeiten leben. Ihr Wert wird schnell der angeblich so viel bedeutenderen Wertschöpfung in der Wirtschaft nachgeordnet, obwohl letztere ohne erstere gar nicht existieren würde. In anderen Zusammenhängen zeigt sich das ebenso.

Ich möchte dies an einem Beispiel deutlich machen, dass in Hochschulen und Lebensläufen von Akademikern immer häufiger zu finden ist. In Lebensläufen kann man dann lesen oder es wird einem erzählt, dass jemand „sich“ promoviert habe. Er hat sich also den akademischen Grad selbst verliehen. Dazu bedürfte es strenggenommen dann weder einer Dissertation (Qualifikationsschrift) noch einer Disputation (mündliche Verteidigung der Dissertation). Es bedürfte keiner Universität und keines Fachbereichs, der die Dissertation prüfte, wenn doch die Kandidaten „sich“ selbst promovierten. Dass selbst unter denjenigen diese Redeweise zur Selbstverständlichkeit geworden ist, die diese institutionalisierten Verfahren durchlaufen haben, ist erstaunlich genug. Das Phänomen bezeugt vor allem, was Theo Wehner oben darlegt, wie sehr das Ich mit seinen Leistungen offenbar im Zentrum der Selbstwahrnehmung steht, auch wenn das der Realität gar nicht entspricht.

An einer weiteren Stelle im Interview heißt es:

SRF: „Sollten wir, wenn wir schon eigenverantwortlicher arbeiten, auch eigenverantwortlicher dafür sorgen, dass die Arbeit uns gut tut?“
TW: „Genau. Die Verantwortung hört nicht da auf, wo ich mein Produkt abgeliefert habe. Die Verantwortung habe ich auch mir gegenüber, das heisst, dass ich diese Arbeit auch noch morgen und übermorgen erbringen könnte. Ich bin unter Umständen selbst der Experte dafür, wie meine Arbeitsbedingungen aussehen sollten. Es gab Zeiten in der Arbeitswelt, in denem man Tagträumen nachgehen konnte. Es gab Zeiten, da hat man Arbeitslieder nicht nur gesungen, sondern man hat sie am Arbeitsplatz komponiert. All das ist subjektiv wichtig. Die Frage ist, ob wir dem auch gerade in modernen Arbeitsplätzen wieder nachgehen könnten.“

Diese Passage verstehe ich so, dass es um Mußemomente am Arbeitsplatz geht, was um so bedeutender werden könnten, je stärker zukünftig Problemlösungsfähigkeiten von Mitarbeitern gefordert sein werden, da Routinetätigkeiten auf Automaten übertragen werden können. Aber auch wo das nicht der Fall sein wird, stellt sich die Frage, wie es zu diesen Mußeräumen kommen könnte, ohne sich auf andere verlassen zu müssen, die sie einem einräumen. Ein Bedingungsloses Grundeinkommen könnte einen erheblichen Beitrag dazu leisten, in mancher Hinsicht „Experte“ seiner selbst in Sachen Arbeitsbedingungen zu werden.

Sascha Liebermann