Vorreiter Skandinavien?

Neil Irwin zeigt in einem Artikel in der New York Times auf, wie fortschrittlich die skandinavische Sozial-, Steuer- und Arbeitsmarktpolitik sei. Trotz extrem hoher Besteuerung ließen sich die Menschen dort nicht vom Arbeiten abbringen, was darauf hinweise, dass sie arbeiten wollen und nicht durch Anreize dazu gebracht werden müssen. Wenn er aufweist, was in den skandinavischen Staaten alles für infrastrukturelle Wohltaten, die aus den hohen Steuern finanziert werden, den Bürgern das Arbeiten ermöglichen, wird man allerding etwas stutzig. So heißt es mit Bezug auf die Berechnungen von Henrik Jacobsen Kleven von der London School of Economics: „There is a solid correlation, by Mr. Kleven’s calculations, between what countries spend on employment subsidies — like child care, preschool and care for older adults — and what percentage of their working-age population is in the labor force.“ Was bedeutet das? Nun, es heißt doch, dass – vor allem dort, wo Erwerbsarbeit ein normatives Normalmodell, einen starken normativen Konsens darstellt – der Druck auf diejenigen, die nicht „Beruf und Familie vereinbaren“ wollen, extrem gesteigert wird, denn nun gibt es keine „Ausrede“ mehr: die Kinder können ja „untergebracht“ werden… Die norwegische Kindergärtnerin Marianne Hillestad, die in dem Artikel zitiert wird, spricht es unumwunden aus: „The system is designed to keep us working.“ Das skandinavische System der Wohlfahrt, das auch hier immer wieder als Vorbild hochgehalten wird, ist also nicht etwa da, um den Bürgern ein würdevolles und freies Leben zu ermöglichen. Und wenn eine Krankenschwester aus Oslo, Camilla Grimsland Os, einerseits sagt: „Being home with my children is a blessing“, aber andererseits: „I feel that I contribute when I go to work.” – ja, was heißt das? Doch offensichtlich, dass, für die Kinder zu Hause da zu sein, für sie und ihre Landsleute eben nicht bedeutet, etwas beitzutragen, sondern eher als etwas Zusätzliches gilt, als ein persönlicher Luxus, der für sie „a blessing“ darstellt, aber kulturell-normativ doch vielleicht eher als „a mixed blessing“, als ein zweifelhaftes Vergnügen gesehen wird. Irwin macht diesbezüglich die zutreffende Bemerkung: „The Scandinavian countries may have cultures that encourage more people to work, especially women.“ Diese Beobachtung verweist auf die gern übersehenen kulturellen, arbeitsethischen Voraussetzungen der skandinavischen Länder. Vor deren Hintergrund sind die sozialen Errungenschaften dort nicht mit einem BGE vereinbar und auch keineswegs als Schritte auf dem Weg dorthin zu begreifen. Ziel des BGE ist demgegenüber die Befreiung von diesem normativen Erwerbszwang – und paradoxerweise ist eine Voraussetzung zu seiner Einführung die vorweggenommene gedankliche Befreiung davon.

Thomas Loer