Damit beschäftigt sich Werner Vontobel in einem Beitrag auf Makroskop. Es geht um bezahlte (indirekte) und unbezahlte (direkte) Arbeit, um Hartz IV, Teilhabe und das Bedingungslose Grundeinkommen. Letzteres gewinnt vor dem Hintergrund an Bedeutung, dass indirekte Arbeit, also Erwerbstätigkeit, heute einen viel zu hohen Stellenwert genieße. Wie nimmt Vontobel das BGE auf?
„Doch die Idee, das Einkommen völlig von der Arbeit zu trennen, ist auch gefährlich. Die Gefahr besteht darin, dass eben auch die Empfänger des Grundeinkommens nicht nur von der Arbeit sondern auch von der Gesellschaft abgekoppelt werden. Damit aber wäre das Problem der Arbeitslosigkeit noch nicht einmal zur Hälfte gelöst, denn mehr noch als unter dem Verdienstausfall leiden die Arbeitslosen unter dem sozialen Ausschluss. Dieser Teil des Problems löst sich allerdings nicht so einfach, wie es sich viele „Schröder- Sozialdemokraten“ mit ihrem einfältigen Sozial-ist-was-Arbeit-schafft-Slogan vorstellen. Im Gegenteil: Schlecht bezahlte, unregelmäßige Arbeit mit langen Arbeitswegen kann die Menschen erst recht in die Isolation treiben und die letzten familiären und nachbarschaftlichen Verbindungen kappen.“ [Hervorhebungen von mir, SL]
„Die Empfänger des Grundeinkommens“ – sind hier alle gemeint oder nur diejenigen, die ausschließlich vom Grundeinkommen leben? Schon mit dieser Ungenauigkeit fängt es an. Ein BGE, das an alle ausgezahlt wird, koppelt nicht ab, es koppelt an. Keiner kann dem anderen vorhalten, er sei BGE-Bezieher. Diejenigen, die nur vom BGE lebten, täten nicht etwas Unerwünschtes, so wie heute, sondern etwas Ermöglichtes, es wäre legitim. Wie kann dies zu einem Problem werden, aus wessen Sicht und für wen?
Welches „Problem der Arbeitslosigkeit“ hat Vontobel vor Augen? Ist die Stigmatisierung gemeint? Das Ausgeschlossensein? Sich erklären zu müssen? Genau das aber wäre gelöst, weil es ein BGE als Mindestabsicherung gäbe, für die sich niemand zu rechtfertigen hätte. Der „Ausschluss“ hingegen, den er befürchtet, geht auf die heutige Verherrlichung von Erwerbstätigkeit zurück, hängt direkt damit zusammen und ist ohne diese Verbindung gar nicht zu verstehen. Die von Vontobel dann angeführten Beispiele zeigen nur, dass er die Bedeutung der durch ein BGE verliehenen Verhandlungsmacht nicht sieht. Sie erlaubte ja gerade, die von ihm als problematisch aufgeführten Arbeitsbedingungen und -folgen abzulehnen bzw. über bessere Bedingungen zu verhandeln, damit es nicht zur Vernachlässigung von familiären wie nachbarschaftlichen Beziehungen kommen muss. Doch der Umstand, durch ein BGE tatsächlich anders verhandeln zu können, signalisiert noch etwas. Die Gemeinschaft traut ihm genau dies auch zu, wodurch etwas konkreter erfahrbar wird, das in der Demokratie durch die Stellung der Bürger darin schon formuliert wird. Diese Art der „Inklusion“ ist umfassend im Unterschied zur stets prekären der Arbeitsbeziehungen, in denen der Einzelne nur als Mitarbeiter, nur bezüglich seiner Aufgabenbewältigung, also nur der Leistung wegen „inkludiert“ ist, nicht um seiner selbst willen. All das wäre durch ein BGE möglich, was in Vontobels Kritik an den negativen Folgen des „Sozial ist, was Arbeit schafft“ nur aufscheint.
Vontobel verweist in seinem Beitrag auf Ausführungen Paul Steinhardts, die ebenfalls auf Makroskop veröffentlicht wurden. Steinhardt zitiert darin eine interessante Äußerung eines Ökonomen, die zum obigen Zusammenhang passt. Sie findet sich in etlichen Studien von Sozialwissenschaftlern und ist für die BGE-Diskussion von Bedeutung. Er zitiert aus einer Schrift des Ökonomen Hans-Joachim Schadermann folgende Stelle (der Quellenverweis findet sich im Beitrag von Steinhardt):
„Der Wert beschäftigungsloser Zeit ist für Arbeitslose gering. Sie entscheiden sich nicht für ihnen höherwertige Freizeit bei ihnen niedrig erscheinenden ‚Vollbeschäftigungslöhnen‘, sondern sie erleben Beschäftigungslosigkeit und Leerzeit als simultane und Freizeit entwertende Erscheinung.“
Was bedeutet das? Lässt man diesen Befund einfach so stehen, der offenbar auf eine Befragung zurückgeht, ohne die Bedingungen, unter denen er zustandekommt, zu reflektieren, würde ich das Datenpositivismus nennen. Es wird schlicht festgestellt, was der Fall ist, ohne zu analysieren, wie es zu diesem Fall kommt. Damit will ich sagen, dass solches „Erleben“ immer in die konkreten Lebenszusammenhänge und Gerechtigkeitsentwürfe eingebettet werden muss. Würde die Person in einem Land leben, das von Subsistenzwirtschaft dominiert ist, würden andere Handlungsnormen gelten. Das ist keine großartige Einsicht, sondern sie gehört zum methodischen Handwerkszeug empirischer Sozialforschung. Misslich ist nun, wenn ein konkretes Handeln nicht in Zusammenhang mit für dieses Handeln geltenden Normen gebracht wird. Näher kann man dem kommen, wenn mit nicht-standardisierten Daten geforscht und dabei z. B. – wie der terminus technicus lautet – fallrekonstruktiv vorgegangen wird. Auf diese Weise lassen sich methodisch konkrete Handlungsmotivierungen, die einer Person in der Regel nicht bewusst sind, in ihrem Wirkzusammenhang bestimmen. Als Material eignen sich hierfür sogenannte „offene Interviews“, die sich in gewisser Hinsicht wie ein offenes Gespräch entwickeln können. Der Interviewer hat die Möglichkeit nachzufragen, um weitere Ausführungen des Interviewees zu erhalten, die nicht in ein vorgeformtes Antwortschema gepresst werden, wie es bei standardisierten Erhebungen notwendig und deswegen üblich ist. Was zeigt sich dann für ein Befund, wenn so vorgegangen wird? Es wird dann deutlich, dass die bloße Feststellung der Erfahrung, dass beschäftigungslose Zeit entwertet ist, nicht für sich steht. Sie muss ins Verhältnis zur normativen Bewertung von Erwerbstätigkeit gesetzt werden, und zwar der individuellen wie der kollektiven. Denn ein Gemeinwesen lebt stets auf der Basis eines konkreten Gerechtigkeitsentwurf, zu dem auch die Bewertung von Tätigkeiten gehört. Entscheidend ist für uns hier also der normative Vorrang von Erwerbstätigkeit, vor dessen Hintergrund das obige Handeln bzw. die obige Erfahrung bzw. das Erleben angegeben wurde. Dieser Vorrang schafft eine Hierarchie, in der nicht-erwerbsförmige Tätigkeiten als nachrangig eingestuft werden, z. B. Haushaltstätigkeiten oder bürgerschaftliches Engagement. Wenn nun also dieser normative Vorrang aufgehoben wird und erwerbsunabhängige legitime Einkommensarten eingeführt werden, das wäre ein BGE, dann erscheint die obige Konstellation in einem anderen Licht. Der heute illegitime Zustand der Beschäftigungslosigkeit mit all seinen stigmatisierenden Folgen würde seinen Charakter verändern.
Vontobel beschäftigt sich dann im weiteren damit, wie die Bedingungen direkter (also unbezahlter) Arbeit verbessert werden können, die einen erheblichen Teil des Arbeitsvolumens ausmacht. Dazu schreibt er:
„Es gibt auch Arbeit, die man auslagern kann und der man nachrennen muss. Das betrifft vor allem Industriegüter. Und nicht selten geht es dabei um mehrere hunderte Jobs. Doch insgesamt ist die industrielle, global verschiebbare Arbeit nicht sehr bedeutsam. Und sie wird weniger. In der Schweiz etwa entfielen 2016 nur noch 8,7 Prozent aller bezahlten (rund 4% aller) Arbeitsstunden auf die traditionellen Exportbranchen wie Uhren, Maschinen, Pharma und Finanzdienstleistungen. 1991 waren es noch 10,4%. Gemessen an der Bevölkerung ist es gar ein Rückgang um 25%. Angesichts der hohen Exportüberschüsse handelt es sich dabei per Saldo nicht um Auslagerungen. Diese Jobs wurden schlicht wegrationalisiert. Und dieser Trend ist nicht zu stoppen.“
Ganz illusionslos schildet er die Entwicklung. Dann kommt dies:
„Die Menschen hinter der Arbeit herrennen zu lassen [damit genügend Beschäftigung vorhanden ist, um die oben geschilderten Folgen zu verhindern, SL], ist also keine kluge Strategie. Damit kann man im besten Fall den Nachbarn ein wenig bezahlte Arbeit abluchsen, doch insgesamt nimmt damit sowohl die bezahlte als auch vor allem die unbezahlte Arbeit ab. Stattdessen muss man die Arbeit wieder zu den Menschen bringen. Ein wichtiges Mittel dazu ist die Siedlungspolitik. Jung und Alt, Wohnen und Arbeiten (zumindest gewerbliche Arbeit) müssen wieder näher zusammenrücken. Es braucht mehr Spielplätze, Schrebergärten und Gemeinschaftsräume, nicht nur für kulturelle und kulinarische Anlässe, sondern etwa auch für Werkstätten. Dann organisiert sich die Arbeit schon fast von alleine.“
Nun, „schon fast von alleine“ ist wohl stark übertrieben, denn dazu benötigt es erst einmal der entsprechenden Zeit und vor allem des legitimen Einkommens. Vontobel sagt nicht genau, wie er diese Zeit verschaffen will. Bürgerschaftliches Engagement ist solange besonders attraktiv, solange das Erwerbseinkommen nicht wegbricht. Für Haushaltstätigkeiten, vor allem für die Sorgenden, können wir nun seit Jahren feststellen, dass sozialpolitisch der Druck immer größer wird, sie Erwerbsverhältnissen nachzuordnen. Der Achte Familienbericht der Bundesregierung mit dem Titel „Zeit für Familie“ kommt symptomatisch zu dem Schluß, dass Angebote für Ganztagsbetreuung und Ganztagsschulen ausgebaut werden müssen. Insofern müsste der Titel des Berichts dann eher auf „Keine Zeit für Familie“ oder „Noch weniger Zeit für Familie“ geändert werden
Im ersten Teil des Zitats schreibt Vontobel davon, „Arbeit wieder zu den Menschen“ zu bringen. Warum nicht andersherum denken, denn wo Menschen sind, ist Arbeit im weitesten Sinne, also geht es nur darum, sie beim Menschen zu belassen, statt ihn von ihr fortzutreiben. Wie aber wäre das erreichbar? Eben durch eine Ermöglichungspauschale, wie das BGE eine ist.
Direkt im Anschluß schreibt er:
„Durch eine solche Reorganisation wird die bezahlte Arbeit vermutlich noch in stärkerem Maß durch direkte Arbeit ersetzt werden. Das bringt aber auch Probleme mit sich, weil die produktiven Tätigkeiten weniger Geldeinkommen generieren. Auf diese sind aber der Staat, die Sozialwerke und jeder Privathaushalt angewiesen. Zudem ist ein Leben ohne berufliche Karriere für die allermeisten unbefriedigend (Außer vermutlich für die heranwachsende Generation von McDonald- oder Zalando-Jobbern).“
Eben, Einkommen muss her. Ob die Diagnose im ersten Teil zutrifft, ist doch ganz unklar, aus vielerlei Gründen. Der Schlusssatz ist wieder undifferenziert, weil „berufliche Karriere“ heute einen anderen Stellenwert hat, siehe oben. Wer eben eine Karriere machen will, muss sich nach den Möglichkeiten dafür umsehen oder würde Vontobel Karrieremöglichkeiten zuweisen, garantieren oder absichern wollen?
„Zwar wird auch der Drang und Zwang zur bezahlten Tätigkeit abnehmen, wenn man sich vermehrt durch direkte Arbeit sinnvoll in die Gesellschaft einbringen kann. Das allein dürfte aber nicht ausreichen, um den Arbeitsmarkt ins Gleichgewicht zu bringen und um ausreichend Geldeinkommen für alle zu schaffen.“
Warum nicht? Braucht es das „Gleichgewicht“ im „Arbeitsmarkt“ dann noch?
„Diese Probleme sind nicht trivial. Finanzielle Entschädigungen für sozial notwendige (bisher unbezahlte) Arbeit kann Teil der Lösung sein. Doch zunächst einmal geht es darum, die bezahlte Arbeit nicht mehr isoliert zu betrachten, sondern die ganze Arbeit und nicht nur die Arbeitskraft, also den ganzen Menschen zu sehen. Die Ökonomen und Wirtschaftspolitiker müssen da noch ein bisschen dazu lernen.“
In der Tat „diese Probleme sind nicht trivial“ und Vontobel ist zuzustimmen, dass die „Ökonomen und Wirtschaftspoliker“ dazu lernen müssen. Was ist mit einer konkreten Gestaltungsantwort?
Wären denn nun „finanzielle Entschädigungen“, die ja nur Entschädigungen für eine Leistung sein können, wirklich eine Lösung? Würde dadurch nicht das Lohnprinzip auf die unbezahlte Arbeit verlängert, sie dadurch in ihrem Charakter grundsätzlich verändert? Will man der Kommodifizierung unbezahlter Arbeit nicht Vorschub leisten, muss sie aus dem Zusammenhang von Leistung und Gegenleistung, wie er für die heutige Einkommenserzielung gilt, herausgehalten werden. Wie ist das möglich, ohne sie zugleich zu vernachlässigen? Gerade durch ein BGE – was überhaupt nicht ausschließt, dass Pflegetätigkeiten zukünftig nicht besser gestellt werden müssen.
Warum sieht Vontobel das nicht? Womöglich, weil er oben eine Sorge äußert (die Spaltung durch ein BGE), die auf heute zutrifft, nicht aber notwendig auf die Zeit mit BGE.
Sascha Liebermann