Was hat der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, im Interview mit der Berliner Morgenpost denn gesagt, dass es einen solch radikalen Titel zulassen würde? Geht es mit dem „solidarischen Grundeinkommen“ tatsächlich darum, das Sanktionssystem im Arbeitslosengeld II hinter sich zu lassen?
Schauen wir uns das an:
„Herr Müller, Sie haben ein solidarisches Grundeinkommen als neues sozial- und arbeitsmarktpolitisches Instrument vorgeschlagen. Ist das System von Hartz IV gescheitert, das ja immerhin von Ihrer Partei ersonnen und über viele Jahre gegen Kritik verteidigt wurde?
Michael Müller: Man muss zur Kenntnis nehmen, dass jenseits der Erfolge der Agenda-Reformen es auch 15 Jahre danach keine gesellschaftliche Akzeptanz für Hartz IV gibt. Die brauchen wir aber in Zeiten des Umbruchs. Deswegen ist es angesichts der Digitalisierung und der sich damit rasant verändernden Arbeitswelt Zeit, Schluss zu machen mit dem bisherigen System und es zu ergänzen durch ein neues Recht auf Arbeit.“
Keine gesellschaftliche Akzeptanz für Hartz IV? Ist das so? Meiner Erfahrung nach ist die gesellschaftliche Akzeptanz außerordentlich hoch, deswegen haben wir die Sozialpolitik, die wir haben. Darüber kann auch das vehemente Engagmenent einer deutlichen Minderheit für Alternativen nicht hinwegtäuschen. Und selbst diejenigen, die eine repressionsfreie Grundsicherung favorisieren, sehen entweder – wie Christoph Butterwegge – sehr wohl eine Erwerbspflicht vor, die nur mit Sanktionen eingefordert werden kann, oder machen sich Illusionen darüber, dass Sanktionen aufgegeben werden könnten, zugleich aber die Erwerbsverpflichtung fortbestehen würde.
Wie kann man mit „dem bisherigen System“ schlussmachen und es durch ein „Recht auf Arbeit“ „ergänzen“? Ergänzen lässt sich nur etwas, das schon besteht, im Falle von Hartz IV also fortbesteht. Das „Recht auf Arbeit“ wird von der „Pflicht zur Arbeit“ also gar nicht abgelöst. Insofern kann von „Schluß mit Hartz IV“ gar keine Rede sein, es wird nur mit einer Ergänzung weitergeführt.
Müller führt nun aus, was seinen Vorschlag vom Bestehenden unterscheiden soll:
„Wie unterscheidet sich Ihr Modell von einem bedingungslosen Grundeinkommen, wo jeder einen festen Grundbetrag an Geld erhalten soll?
Dem solidarischen Grundeinkommen liegt ein echtes Arbeitsverhältnis zugrunde. Es gibt einen normalen Arbeitslohn, es werden Sozialabgaben geleistet, man erwirbt Rentenansprüche. Es wird in beiden Richtungen Solidarität geübt: Der Staat ist solidarisch, weil er Menschen unterstützt und ihnen Arbeit gibt, die sie brauchen. Und umgekehrt bringen diese ihre Arbeitskraft ein in Bereichen, die unserer Gemeinschaft zugutekommen.“
Der Begriff Grundeinkommen lässt sich natürlich so weit ausdehnen, dass alles darunter gefasst werden kann, auch Hartz IV. Genau das meinte kürzlich ein Mitarbeiter des öffentlichen Rundfunks zu mir nach der Aufzeichnung des Gesprächs mit Marcel Fratzscher und mir über BGE im Deutschlandfunk. Das Ausmaß an Nicht-Informiertheit über die Bezugsbedingungen des Arbeitslosengeldes II sind erschreckend oder anders ausgedruckt: daran genau ist abzulesen, wie groß der Rückhalt dafür ist.
Der „Staat ist solidarisch, weil er Menschen Arbeit gibt, die sie brauchen“ – damit lässt sich noch alles rechtfertigen. Ob die Menschen diese Arbeit brauchen oder ob sie nicht vielmehr Leistungen brauchen, die sie nicht an den Rand drängen, sind zwei ziemlich verschiedene Dinge. Und wenn Menschen Arbeit brauchen, könnten sie auf der Basis eines BGE sich genau darum kümmern. Unter geltenden Bedingungen jedoch böte das solidarische Grundeinkommen vor allem die Möglichkeit, der Beaufsichtigung durch Jobcenter zu entgehen, um den Preis allerdings, eine der angebotenen Stellen annehmen zu müssen.
Michael Müller vertritt damit dieselbe Haltung wie Marcel Fratzscher ohne zu benennen, dass die Sanktioninstrumente für diejengen fortbestehen, die keine dieser Stellen anzunehmen bereit wären. Danach fragt immerhin der Journalist:
„Was tun Sie in Ihrem Modell mit Leuten, die keinen solchen Job wollen? Soll es Sanktionen geben?
Es geht um Freiwilligkeit, keineswegs um einen Arbeitszwang. Wir haben in einer Kommune so viele Aufgaben, dass man das gut zusammenführen könnte. Wer nach einem Jahr ohne Job in den Hartz-IV-Bezug rutschen würde, bekäme ein Angebot für eine neue Tätigkeit. Wer eine Arbeit nicht aufnehmen will oder kann, bekommt auch weiterhin die Sozialleistungen, die wir kennen. Mir geht es um einen Schritt nach vorne.“
Es soll also keine Sanktionen geben für diejenigen, die ein solches Stellenangebot nicht wahrnehmen wollen? Gut, das entspräche der Freiwilligkeit, aber nur bezogen auf die Angebote im Rahmen des solidarischen Grundeinkommens. Aber können sie tatsächlich alle Stellenangebote ausschlagen, ohne Sanktionen zu gewärtigen? Das ist im bisherigen System nicht vorgesehen und Müller sagt kein Wort davon, dass das Erwerbsgebot aufgegeben werden soll. Arbeitslosengeld II bliebe also eine nachrangige Leistung, d. h., es müsste weiterhin Sanktionen geben.
Man kann sich angesichts dieser geringfügigen Ergänzung von Hartz IV nur über die Reaktionen aus den Berliner Parteien wundern, die mit dem Vorschlag von einer Hoffnung für Langzeitarbeitslose über die sozialistische Mottenkiste bis zur sozialen Hängematte, aus der herauszukommen sich lohnen müsse, alles verbunden wird. Wie im Nachgang zu Äußerungen von Jens Spahn wird wieder einmal gejault, statt genau hinzuschauen.
Sascha Liebermann