Das nachstehende Interview wurde von Unternimm die Zukunft mit Sascha Liebermann vor sechs Jahren, im April 2013, geführt. Anlass war zum einen seine Ernennung zum Professor für Soziologie an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter, zum anderen eine damals gerade veröffentlichte Studie zum Bedingunglosen Grundeinkomme. Es wird hier wieder veröffentlicht, nachdem die Website von Unternimm die Zukunft abgeschaltet wurde.
„Unternimm die Zukunft: Welche wissenschaftlichen Fragen zum Bedingungslosen Grundeinkommen (BGE) möchten Sie nach Ihrer Ernennung zum Professor für Soziologie an der Alanus Hochschule vorantreiben?
Sascha Liebermann: Mich interessieren Grundlagen von Sozialität, auch vom Zusammenhalt politischer Gemeinschaften, so bin ich damals auf das BGE gestoßen. Ich möchte Grundlagenforschung betreiben und so zur Erhellung mancher Fragen, die das BGE aufwirft, beitragen. Faszinierend ist das BGE für mich als Soziologe, weil es Selbstverständlichkeiten und Selbstverständnisse angreift und so Fraglichkeiten sichtbar werden lässt. Es ist eine frappierende Erfahrung in der Grundeinkommensdiskussion, wie schwach das öffentliche Bewusstsein über die konkreten Voraussetzungen ausgebildet ist, auf deren Basis wir heute schon zusammenleben. Schaut man sich einmal die politische Ordnung in Deutschland an, fällt auf, dass sie dem Bedingungslosen Grundeinkommen viel mehr entspricht, als es die Sozialpolitik heute erkennen lässt. Von dieser Warte aus betrachtet, ist das Menschenbild des BGE keine Utopie, es ist Realität. Es ist die Diskrepanz zwischen dieser Realität und unserer Vorstellung davon, die das BGE als utopisch erscheinen lässt. Weshalb aber wird das nicht oder kaum gesehen? Dazu muss unser Selbstverständnis als Gemeinwesen untersucht werden, was ich teils schon getan habe. Neben den Voraussetzungen des BGE interessieren mich die Folgen für verschiedene Lebensbereiche, z.B. Familie, Sozialisation, Bildung. Sie lassen sich natürlich nur indirekt sichtbar machen, indem durch eine Analyse der normativen Verhältnisse heute in ihnen selbst das mögliche Anderssein aufgesucht wird.
UdZ: Aktuell ist eine Studie zum Grundeinkommen der Universität St. Gallen HSG [hier die aktualisierte Fassung der Studie aus dem Jahr 2016] erschienen. Wie beurteilen Sie deren Ergebnisse?
Sascha Liebermann: Ich habe sie noch nicht eingehend studieren können. Nach meinem bisherigen Eindruck ist sie lehrreich, um zu verstehen, welche Modelle und Annahmen in Anspruch genommen werden, um das Bedingungslose Grundeinkommen (die Autoren sprechen meist vom Garantierten Grundeinkommen) in seinen Auswirkungen abzuschätzen. „Anreize“, vor allem „Arbeitsanreize“ (Erwerbsarbeit), spielen auch hier wieder eine herausragende Rolle, an ihnen werden Wohl und Wehe des BGE festgemacht. Der Begriff Anreiz läuft letztlich auf eine Reiz-Reaktion-Kausalität hinaus – trotz aller Modifikationen, die im Laufe der Jahre gemacht wurden. Menschliches Handeln ist damit in seiner Komplexität nicht greifbar. Vermessen ist, wie aus Modellrechnungen Wirklichkeiten abgeleitet werden. Zwar räumen diejenigen, die es tun, immer ein, dass es nur Simulationen seien, die Ergebnisse werden dennoch behandelt, als handele es sich um Tatsachen. Solche Modelle berechnen jedoch lediglich, welche Auswirkungen bei gegebenen Annahmen ihres Modells ein BGE haben könnte – dabei geht es immer um mathematisch ermittelte Wahrscheinlichkeiten, es geht um Korrelationen zwischen Variablen, deren Zusammenhang erst zu deuten ist, nicht aber wie eine unverrückbare Tatsache feststeht. Ob ein BGE also diese berechneten Auswirkungen hätte, lässt sich gar nicht sagen, weil nicht antizipiert werden kann, wie Menschen mit dem BGE umgehen. Symptomatisch und problematisch ist die Vermischung von Analyse und Werturteil, die auch in diesem St. Galler Papier vorliegt. Hinter Suggestivfragen, die vermeintlich neutral daherkommen, verbergen sich Werturteile, wie z.B. hier: „Weshalb aber sollen diejenigen, die in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt selbst zu finanzieren, den Luxus, nicht arbeiten zu müssen, sondern sich der Musse hingeben zu können, von jenen finanziert bekommen, die Erwerbsarbeit leisten? Letztere werden sich von ihnen ausgebeutet fühlen. Und weshalb sollten sie jene unterstützen müssen, die gar nicht bedürftig sind, wie z.B. die Partner(innen) gut verdienender Alleineinkommensbezieher oder jene, die von (hohen) Kapitaleinkommen leben?“ (S. 10 f.; diesen Hinweis verdanke ich Thomas Loer). Eine schon ziemlich voraussetzungsvolle Frage, die nicht auf eine analytische Klärung zielt; sie setzt eine Wertvorstellung voraus, an der ein BGE gemessen wird, ohne diese selbst zu analysieren. Wie bei vielen Finanzierungsstudien werden mögliche Veränderungen, die die normative Umwertung der Lebensverhältnisse durch ein BGE bedeutet, nicht ernsthaft ausgelotet. Wie ein BGE den Solidarverband Gemeinwesen stärken kann, weil es das Solidarprinzip der Bürgergemeinschaft zum Maßstab des Sozialstaats erhebt – ganz anders als heute -, wie es auf einfache Weise Familien helfen könnte, wie es Chancen erhöhen würde, dass Berufung und Beruf zusammenfinden, wie es Produktivität fördern und Effizienz steigern könnte, weil Engagement, ganz gleich wo, mehr als heute einem Wollen und weniger einem Müssen entspränge – davon kein Wort. Um so erstaunlicher ist das, wenn man bedenkt, dass die Studie aus einem Land kommt, in dem Volksabstimmungen zur Selbstverständlichkeit gehören und das „Schweizer Volk“ das Fundament des Gemeinwesens ist, nicht aber die „Werktätigen“, wie es der Studie zufolge sein müsste. Ich habe vor, demnächst einen ausführlicheren Kommentar zu verfassen, der wird dann in der einen oder anderen Form im Blog von „Freiheit statt Vollbeschäftigung“ zu lesen sein.
UdZ: Im Herbst 2012 ist der Sammelband „Das Grundeinkommen“ auch mit einem Beitrag von Ihnen erschienen. Wie entwickelt sich derzeit die Debatte über die Idee des Bedingungslosen Grundeinkommens in der Wissenschaft?
Sascha Liebermann: Das genannte Buch hat zwar keinen Aufschwung bewirkt – das wäre auch eine zu große Erwartung gewesen – ist aber auch nicht folgenlos geblieben, wie die Studie von der Universität St. Gallen zeigt. Die Autoren Habermacher und Kirchgässner (in ihrem Diskussionspapier S. 6, Fußnote 16) haben zumindest den Beitrag von Wolfgang Eichhorn und Andre Presse zur Finanzierung (im Buch S. 188) aufmerksam gelesen. Diese Auseinandersetzung bezeugt die Bereitschaft, sich mit dem Grundeinkommen zu befassen, das sehe ich positiv. Allerdings muss man auch sagen, dass es eine solche Bereitschaft – national wie international – schon länger gibt, in den letzten Jahrzehnten sind immer wieder Studien erschienen. Im letzten Jahrzehnt, das ist sicher, hat es auf jeden Fall eine intensivere Diskussion gegeben, wie an den doch zahlreichen Arbeiten über Grundeinkommen – auch in Deutschland – zu erkennen ist. Insgesamt aber wird die Breitenwirkung, die ein BGE haben könnte, nach wie vor viel zu wenig beachtet: Solidarität, Demokratie, Gesundheit, Wirtschaft, Bildung – die meisten Studien äußern sich vorwiegend zu Auswirkungen auf die Wirtschaft. Auch werden systematisch verschiedene Dinge – so auch in der St. Galler Studie – in einen Topf geworfen. Es wird z.B. eine rückwirkend ausgezahlte Steuergutschrift (als Negative Einkommensteuer) mit einer im voraus bereitgestellten Einkommensgarantie wie dem Bedingungslosen Grundeinkommen (Sozialdividende) gleich gesetzt. Erstere wirkt kompensatorisch, sie soll einen Einkommensmangel ausgleichen, der angesichts eines in einem Gemeinwesen definierten Einkommensminimums festgestellt wird. Dazu muss zuerst festgestellt werden, ob Einkommen erzielt wurde, ob der Betreffende also eine Gutschrift erhält oder nicht. Durch dieses Procedere bleibt das normative Ideal, erwerbstätig sein zu sollen, aufrechterhalten, wenngleich in einer liberaleren Variante als heute bei uns. Das BGE indes wirkt genau andersherum, es fragt nicht nach erzieltem Einkommen, es ist nicht kompensatorisch gedacht, sondern hat einen eigenständigen Status. Dieser normative Unterschied fällt sehr häufig unter den Tisch, wenn das BGE mathematisch betrachtet wird, wenn also Steuerempfang und Steuerschuld in einem Transfersystem bilanziert werden. Dann zählt nur noch, ob jemand mehr empfängt, als er zahlt oder umgekehrt, nicht aber, wie das bereitgestellte Grundeinkommen zustande kommt, nach welchem Modus es bereitgestellt wird. Von dieser Unterscheidung hängt jedoch ab, ob das Erwerbsideal bestehen bleibt oder aufgehoben wird.“