„Fördern UND Fordern“ – doch, wozu?

Das fragt sich angesichts eine Plädoyers in diese Richtung von Kolja Rudzio auf Zeit Online angesichts der bevorstehenden Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts über Sanktionen im Arbeitslosengeld II (siehe unsere bisherigen Kommentare hierzu, zum Autor selbst hier). Nach einleitenden Worten fragt Rudzio:

„Ist nun also die Zeit reif, ein Relikt der Hartz-Reformen abzuräumen – Strafen für Arbeitslose? Wenn man es so formuliert, mag das einleuchtend klingen. Doch für den radikalen Schnitt – ein bedingungsloses Grundeinkommen, vor dem viele Fachleute warnen [andere Fachleute aber nicht, SL] – gibt es keine politische Mehrheit. Und ob viele Menschen es wirklich gerechter fänden, wenn beispielsweise das wiederholte Versäumen von Gesprächsterminen im Jobcenter für Hartz-IV-Empfänger keinerlei Konsequenzen hätte, ist keineswegs klar.“

Wenn es für diesen Schritt, Sanktionen abzuschaffen, keine politische Mehrheit gibt, hat sich die Frage nach der Einführung eines BGE doch erübrigt, oder? Es wäre dann ja nicht einmal der Diskussion wert. Ob ein Vorschlag Mehrheiten erhält oder nicht, entscheidet sich praktisch, nicht theoretisch, durch politisches Engagment, nicht aber in einem Zeitungsbeitrag. Sicher, bislang hat es für ein BGE keine Mehrheit gegeben, das heißt aber nicht, dass es sie nicht geben können wird. Messen kann man die Möglichkeiten eines BGE an den Einwänden dagegen, das ist das eine. Messen muss man es an den Argumenten dafür, auch das reicht aber nicht. Die öffentliche Auseinandersetzung ist der einzige Ort, der zeigt, ob und wann, wenn überhaupt je, es eine Mehrheit geben wird. Rudzios Frage, ob es „viele Menschen […] gerechter fänden“, wird sich praktisch zeigen. Sobald es eine Mehrheit gäbe, würde sich erweisen, ob wie weit sie ein BGE zu tragen bereit ist. Das ist die praktische Seite der BGE-Diskussion, sie entscheidet. Allerdings muss gleichwohl gefragt werden, auch wenn es keine Mehrheiten bislang gibt, was die gegenwärtige Sozialpolitik anrichtet, ob sie denn tatsächlich weiterführt?

Rudzio weist zurecht auf die Zeiten vor Hartz IV hin, die heute oft vergessen scheinen oder nicht thematisiert werden (siehe hier):

„Es gab solche Regeln, unter anderem Namen und von der Öffentlichkeit weniger beachtet, schon zu Zeiten der alten Sozialhilfe. Paragraf 25 des Bundessozialhilfegesetzes bestimmte: „Wer sich weigert, zumutbare Arbeit zu leisten oder zumutbaren Maßnahmen nach den §§ 19 und 20 nachzukommen, hat keinen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt.“ Bei Verstößen musste die Hilfe damals in einem ersten Schritt um mindestens 25 Prozent gekürzt werden.“

Allerdings übergeht Rudzio einen Passus in diesem Paragrafen:

„(2) Die Hilfe soll bis auf das zum Lebensunterhalt Unerlässliche eingeschränkt werden.“

Mit unerlässlich könnte hier das Existenzminimum gemeint sein, was dann wiederum einschließt, dass die damaligen Leistungen oberhalb des Existenzminimums lagen und nur bis zum Existenzminimum gekürzt werden durften. Rudzios Verweis auf eine OECD-Studie, die darüber berichtet, dass Sanktionen in irgendeiner Form überall dort vorgesehen seien, wo es vergleichbare Leistungen wie Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe gibt, ist nicht überraschend. Manche Länder, wie die USA, kennen gar eine Befristung des Sozialhilfebezugs auf 5 Jahre. Dabei dürfen aber die Unterschiede darin, wie diese Leistungen ausgestaltet sind, ebensowenig übersehen werden, denn sie bezeugen ganz unterschiedliche Ausdeutungen der Erwerbsverpflichtung bzw. der Leistungsansprüche. Dahinter stehen wiederum unterschiedliche politische Kulturen, unterschiedliche Verständnisse von Freiheit und Gerechtigkeit. Richtig ist allerdings, dass für alle Fälle, wenn wir dies auf liberale Demokratien beziehen, gilt, sozialstaatliche Regelungen sind nicht im Einklang mit den Grundfesten demokratischer Staaten, die auf Autonomie und Selbstbestimmung setzen, damit also von einer grundlegend bedeutsamen, in der Regel vorliegenden Gemeinwohlbindung der Bürger ausgehen. Würde nun von dort aus bestimmt, an welchem Kriterium sich die Bereitstellung des Existenzminimums orientieren sollte, müsste es genau diese Voraussetzung sein, von der Demokratien leben. Deswegen müsste es unverfügbar sein, dürfte nicht angetastet werden, weil die Stellung der Bürger im Gemeinwesen stärker wiegt als Erwerbstätigkeit (es gibt keine Erwerbsobliegenheit im Grundgesetz). Auf diesen Widerspruch zwischen politischer Ordnung und Ausgestaltung des Sozialstaats weist Rudzio in keiner Form hin. Er liegt aber tatsächlich vor. Rudzio schreibt dann:

„Auf der anderen Seite möchte man es aber auch denjenigen nicht zu leicht machen, die eher kühl kalkulierend Geld vom Staat abgreifen. Die nur deshalb nicht zu Terminen im Jobcenter erscheinen, weil sie schwarzarbeiten oder im Ausland leben. Oder die einfach manchmal einen äußeren Ansporn brauchen, damit sie morgens aufstehen und sich um einen Job kümmern. Das betrifft eine Minderheit unter den Arbeitslosen, aber sie existiert eben und erzürnt mit ihrem Verhalten, wenn es bekannt wird, die Bürger.“

Hier artikuliert sich deutlich die Christian Lindner– oder Jens Spahn-Haltung, die allerorten anzutreffen ist. Die linksstehende Grafik veranschaulicht die Zusammenhänge zum Missbrauch von Leistungen. Der weitaus größte Anteil der Sanktionen bezieht sich auf Meldeversäumnisse, eine Grafik, auf die Rudzio selbst hinweist. Würde es ein BGE geben, gäbe es den von ihm beklagten Missbrauch gar nicht, weil ein BGE nicht mit einem bestimmten Ziel verbunden wäre. Es ist allerdings gerade Rudzios Schlussfolgerung, über die trefflich diskutiert werden kann. Denn, was folgt denn daraus, dass manche einen „äußeren Ansporn“ – eine doch eher verharmlosende Formulierung für die Sanktionen – brauchen? Sind sie für private Unternehmen oder den öffentlichen Dienst interessante Mitarbeiter, wenn sie sich nicht selbst aufraffen können? Sollen sie von Unternehmen dazu erzogen werden? Unternehmen also als Erziehungsanstalten? Der Sozialstaat als Besserungsanstalt? Weshalb nicht vom Bürger aus denken, dessen Existenzminimum unverfügbar sein soll? Dann wäre denen geholfen, die partout nichts beitragen wollen, und den anderen, die beitragen wollen, ganz gleich in welcher Form, und dazu Gleichgesinnte finden können. Wer weiß, wie viel Verweigerung heute auch mit dem Sozialstaat zu tun hat, den wir haben? Leistungsfördern sind solche Sanktionen jedenfalls nicht, dem Geist der Demokratie entsprechen sie auch nicht.

Sascha Liebermann