„Wir brauchen einen gesunden Druck“…

…sagt Stefan Graaf, Geschäftsführer der Jobcenter StädteRegion Aachen im Interview auf Zeit Online, das im November veröffentlicht wurde. Worum geht es?

„ZEIT ONLINE: Die Umstellung von Hartz IV auf das Bürgergeld soll den Druck auf Arbeitssuchende verringern, es soll künftig mehr gefördert als gefordert werden. Derzeit werden allerdings in vielen Bereichen händeringend Arbeitskräfte gesucht. Kommt die Reform da nicht zum völlig falschen Zeitpunkt?

Graaf: Die Frage ist doch: Schaffen wir es mit Druck, eine langfristige, erfolgreiche Arbeitsmarktintegration hinzubekommen? Eine kurzfristig erfolgreiche Vermittlung sicher, aber nach meiner praktischen Erfahrung keine langfristige. Eine nachhaltige Arbeitsmarktintegration gelingt nur mit den Menschen und nicht gegen sie. Ja, wir brauchen einen gesunden Druck. Aber das Thema Sanktionen wird immer viel zu hoch gehangen, weil die Mehrzahl der Betroffenen ordnungsgemäß mitwirkt. Das ist teilweise eine Phantomdiskussion, die wir in Deutschland führen. Wichtig ist, dass die Mitarbeiter der Jobcenter ganz eng an den Menschen mit einer guten Beziehungsarbeit dran sein können.“

Graaf spricht aus Erfahrung und gerade deswegen überrascht die Zweischneidigkeit seiner Aussage. Auf der einen macht er deutlich, dass nur „mit den Menschen und nicht gegen sie“ das Ziel der „Arbeitsmarktintegration“ erreicht werden könne. Auf der anderen aber schließt er „Druck“ nicht aus, „gesunden Druck“. Was er damit meint, denn Druck, so wie er es hier verwendet, ist einer, der von außen einwirkt. Inwiefern kann er hilfreich sein und ist es tatsächlich so, dass solcher Druck förderlich ist?

„ZEIT ONLINE: Wie viel Druck ist denn notwendig aus Ihrer Sicht?

Graaf: Es muss zumindest die Verpflichtung bestehen, einer Einladung des Jobcenters auch Folge zu leisten, und das steht im Gesetzentwurf auch drin. Jetzt kann man sich politisch streiten, ob das erst bei der zweiten Einladung greift, wie es jetzt vorgesehen ist, oder ob es schon bei der ersten Einladung greifen soll. Für uns wäre es einfacher, wenn das schon beim ersten Mal der Fall wäre. Dann hätten wir klare Spielregeln. Aber das ist eine politische Entscheidung, die aus Sicht der Praktiker nicht so zentral ist.“

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Das Leid der anderen, darüber sollte man nicht hinweggehen…

…, wie Jörg Wimalasena zurecht hervorhebt, als sei das so ein „Fehler“. Es steht für eine Haltung, der Überzeugung zu sein oder gewesen zu sein, mit mehr Druck, Sanktionen und Leistungsentzug zu meinen, etwas Sinnvolles bewirken zu können. Da kann man dem Einzelnen schon einmal absprechen, einen Beitrag leisten zu wollen, wie es diese Sozialpolitik getan hat. Es gab nicht einmal Belege dafür, dass es an Bereitschaft gefehlt hätte (siehe hier und hier).

Sascha Liebermann

Ein Umschwung – ohne grundsätzliche Änderung,…

…wie ist das möglich, wenn doch Sanktionen erhalten bleiben? Wohin sollen denn die Sanktionen führen, etwa nicht in Erwerbstätigkeit?

Sascha Liebermann

Das eine folgt aus dem anderen: Erwerbsgebot = Sanktionsnotwendigkeit…

…man kann die Sanktionen lediglich so oder so gestalten, auf sie zu verzichten wäre im bestehenden Gefüge ein Widerspruch in sich. Erst wenn die Erwerbsbereitschaft aufgegeben wird als Bedingung, lässt sich auf Sanktionen verzichten.

Sascha Liebermann

Weit verbreitet…

…, wirklich erstaunlich, worauf man immer wieder stößt. Man sollte sich in der Tat durch die vehemente Verteidigung des Bürgergeldes durch die Befürworter nicht darüber täuschen lassen, dass vor wenigen Jahren noch selbst solch zaghafte Erleichterungen abgelehnt worden wären. Die Geistesverwandtschaft ist groß, sie der Grund für das Fortbestehen der Sanktionsbewehrung.

Sascha Liebermann

Wirkungen, welche Wirkungen, woraufhin?

Insofern eine treffende Rückfrage von Thorsten Hild, denn welche Nebenwirkungen haben die Wirkungen, über welche Wirkungen sprechen wir konkret? Wenn das bloße Ziel ist, dass jemand in ein Arbeitsverhältnis gelangt, mag das eine erwünschte Wirkung sein. Was aber leistet er in dem Arbeitsverhältnis, ist es für den Arbeitgeber hilfreich, ist das Arbeitsverhältnis für die Arbeitsleistung hilfreich? Wäre er ohne Sanktionen in für ihn passendere Arbeitsverhältnisse gelangt, hätte er Fortbildungsmöglichkeiten aufgegriffen, benötigt er mehr Zeit zur Orientierung? Die Stellungnahme, auf die Schäfer sich bezieht, ist differenziert, bezieht sich jedoch weitgehend auf standardisierte Befragungen, deren Erkenntniswert dafür, was Leistungsbezieher bewegt, ziemlich gering ist.

Ganz ausgeblendet werden natürlich Tätigkeiten jenseits des Erwerbsarbeitsmarktes, aber das war auch nicht Gegenstand der Stellungnahme.

Nachtrag: 18:12 Uhr: Diese Studie hier des IAB hebt vor allem die Nebenwirkungen hervor, sie ist aus dem Jahr 2021 und fasst vorläufige Ergebnisse zusammen. Den standardisierten Daten und ihrer ebenso standardisierten Auswertung fehlt allerdings der konkrete Zusammenhang, der im Handeln der Leistungsbezieher zu erkennen wäre. Dazu bedarf es nicht-standardisierter Daten und deren fallrekonstruktiver Auswertung.

Sascha Liebermann

Warum nur die eine Seite zitieren?

Hier die Studie, aus der nur ein Teil zitiert wurde und ich die entsprechende Passage ergänzt habe, sie befindet sich auf S. 56. Die Frage, worin denn positive Effekte bestehen, ist eine Frage des Maßstabes, woran also der „Erfolg“ gemessen wird. Interessant auch der Verweis auf „Anreizwirkungen“ – das sind die üblichen Modellannahmen, obwohl „Anreize“, wenn der Begriff schon gebraucht wird, eine komplexe Angelegenheit sind und keine simple.

Sascha Liebermann

„Ja, bei uns wurde jede Arbeit anerkannt“ – und dennoch gilt der Vorrang von Erwerbstätigkeit

In einem Interview, das Zeit Online mit der neuen Vorsitzenden der Bundesagentur für Arbeit, Andrea Nahles, geführt hat, geht es um vieles und es geht um ihr Verständnis von Arbeit, Sozialstaat und Sanktionen. Wäre es zu erwarten, dass seit ihrem Rücktritt als SPD Vorsitzende und ehemalige Bundesministerin sich womöglich ihr Verständnis diesbezüglich verändert hat (siehe unsere früheren Kommentare hier und hier)?

„ZEIT: Hätte Ihr Vater das, was man heute Care-Arbeit nennt, als Arbeit gelten lassen?

Nahles: Ja, bei uns wurde jede Arbeit anerkannt. Es gab eine typische Arbeitsteilung. Aber Arbeit habe ich bei uns zu Hause immer ganz stark als etwas Gemeinschaftliches erlebt, etwas, das ein »Wir« beinhaltet. Meine ersten Kindheitserinnerungen sind damit verbunden. Ich war vier Jahre alt, 1974 muss das also gewesen sein, da wurden Zuckerrüben auf dem Feld geerntet. Die haben wir unseren drei Kühen im Winter zugefüttert. Die Strünke wurden von den Erwachsenen abgeschnitten, die ließen sie einfach fallen, damit es schneller geht. Und die kleinsten Kinder mussten diese Strünke auf einen Haufen schichten. Die Belohnung war ein Glas selbst gemachter Himbeersaft. (lacht)“

Diese Ausführungen würden einen weiten Blick über die Leistungen erwarten, von denen ein Gemeinwesen lebt, denn Nahles unterscheidet hier nicht zwischen Erwerbsarbeit und unbezahlter Arbeit – beides wurde „anerkannt“. Aufschlussreich ist, dass das einfache Füreinanderdasein, hier der Eltern für die Kinder, keine Rolle spielt, davon lebt ein Gemeinwesen aber ebenso. Doch dazu äußert sie sich im Interview nicht weiter.

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„Aber hatte nicht das Bundesverfassungsgericht …? Hat es nicht“…

Wegen der aktuellen Diskussion um ein „Bürgergeld“ sei hier an die Kommentierung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 durch Stefan Sell erinnert, der die ganze Widersprüchlichkeit deutlich macht. Sie führt dazu, dass verschiedene Dinge aus diesem Urteil abgeleitet werden können, auch der vollständige Leistungsentzug, ebenso aber, dass das Grundgesetz keine Sanktionen verlangt, der Gesetzgeber sie aber einführen kann.

Sascha Liebermann

„Bürgergeld statt Hartz IV: Was sich Langzeitarbeitslose von der geplanten Reform erhoffen“…

….darum geht es in einem Teil des DIW-Wochenberichts 31/22. Berichtet wird unter anderem über eine standardisierte Befragung von Langzeitarbeitslosen und deren Einschätzung des Reformvorhabens, in der Grafik wird das Ergebnis dargestellt. Interessant sind die Ergebnisse bezüglich der Vorstellung darüber, wie das System ausgenutzt werde und die Einstellung zur Abschaffung von Sanktionen. Dass gerade Leistungsbezieher sich nicht rundweg gegen Sanktionen aussprechen mag manchen überraschen, der ein verklärtes Bild davon hat, wie diejenigen ein Sozialstaatsgefüge betrachten, die davon betroffen sind. Fachlich betrachtet ist das Ergebnis gar nicht überraschend. Was eine solche Befragung aufgrund ihrer methodischen Grenzen nicht freilegen kann, ist die konkrete Haltung der Befragten zu diesem Komplex, die Widersprüchlichkeit ihrer Auskünfte und die viel weniger klare Abgrenzung in den Haltungen zu verschiedenen Fragen. Um das zutage zu fördern wären nicht-standardisierte Forschungsgespräche hingegen sehr geeignet (offene Interviews), die dann detailliert ausgewertet werden müssen (zur Diskussion dazu siehe z. B. hierhierhier und hier).

Sascha Liebermann