Keineswegs übertrieben ist es zu sagen, dass ohne Prof. em. Dr. Ulrich Oevermann die Initiative Freiheit statt Vollbeschäftigung womöglich nicht gegründet worden wäre. Zwar hat er ihre Gründung weder angestoßen oder vorangetrieben noch aktiv unterstützt, doch er hat uns mit der Idee eines Grundeinkommens in Berührung gebracht und immer wieder Diskussionen dazu geführt, die dann später in die Gründung mündeten. Sein Interesse am Grundeinkommen bestand keineswegs in einem aktivistischen oder politischen Anliegen, auch wenn das manchmal so wirken konnte. Vielmehr entsprang es für ihn aus einer Analyse der „Arbeitsgesellschaft“, ihrer Widersprüche und ihrer Folgen.
Schon 1983 verfasste er ein Manuskript, das sehr viel später veröffentlicht wurde, in dem er – vor dem Hintergrund anhaltend hoher Arbeitslosigkeit – die Frage aufwarf, ob Arbeitsleistung noch als Kriterium der Einkommensverteilung dienen könne. Darin kommt der Vorschlag eines Bedingungslosen Grundeinkommens nicht vor, nicht einmal der Begriff, doch die Frage danach, welcher Voraussetzungen eine individuierte Lebensführung bedarf und welche Möglichkeiten ihrer Entfaltung bestanden, war Gegenstand.
Das war sein Forschungsanliegen, die Autonomie der Lebenspraxis in ihrer Realität zu rekonstruieren. Anfang der 1980er Jahre wurde in der Soziologie über „Die Krise der Arbeitsgesellschaft“ (siehe einen Rückblick darauf hier) diskutiert, Oevermann nahm das auf. Wenig später und außerhalb des Faches wurde der Vorschlag eines „garantierten Grundeinkommen“ aufgegriffen (siehe auch hier), der in den USA schon in den 1960er Jahren kursierte. In Deutschland war dies die erste Debatte über ein Grundeinkommen, das dem heutigen Verständnis sehr nahe kommt. Oevermann beteiligte sich daran unseres Wissens jedoch nicht, das war nicht seine Sache. Erst Ende der 1990er Jahre begegneten wir Oevermanns Überlegungen, auf einem Nebengleis im Rahmen verschiedener Promotionsvorhaben tauchte das BGE auf und führte zu einem weiteren Beitrag, der ebenfalls zuerst als Manuskript vorlag und verbreitet wurde, dann Aufnahme in einen Tagungsband fand. Was in dem früheren Beitrag schon als Frage auftauchte, wurde nun ausgearbeitet zum „Bewährungsproblem des modernen Subjekts“ und wieder ging es um die Frage von Individuierung und Autonomisierung angesichts der „Krise der Arbeitsgesellschaft“, denn die Arbeitslosigkeit war noch höher als zu Zeiten des ersten Beitrags. War in diesen Texten Oevermanns Analyse ganz auf das Verhältnis von Bewährungsdynamik, Individuierung und Leistungsethik konzentriert, veröffentlichte er darüber hinaus Beiträge zur Autonomie des Politischen, der Bedeutung des Nationalstaats als politischer Vergemeinschaftung und ihres Zusammenhangs mit der modernen Demokratie (z. B. hier und hier). Wenn er auch beides in den Veröffentlichungen zum Grundeinkommen nicht verknüpfte, so war diese Verbindung doch deutlich zu sehen und er scheint sie bei anderer Gelegenheit selbst hergestellt zu haben. Für uns stand diese Verknüpfung am Anfang unseres Engagements, sie war entscheidend dafür, uns für die öffentliche Diskussion über ein BGE zu engagieren. Oevermanns materiale Soziologie entstand aus seiner frühen Forschung zu „Sprache und soziale Herkunft“ (hier im Überblick), in der er noch standardisierte Verfahren zu Datenerhebung und -auswertung einsetzte. Die Grenzen dieser Verfahren veranlassten ihn später zu einer grundsätzlichen Kritik und zur Suche nach anderen Wegen der Auswertung, die ihn näher an die beobachtete Realität zu gelangen erlaubten. Hieraus entstand die heute als Objektive Hermeneutik bekannte Kunstlehre, zu deren Entwicklung die Analyse familialer Interaktionen den Ausschlag gab (zur Geschichte der Objektiven Hermeneutik, zur Arbeitsgemeinschaft). Die Objektive Hermeneutik ist allerdings nicht nur ein Auswertungsverfahren, zugleich steht der Begriff für eine Begründung dafür, weshalb dieses Vorgehen für die Grundlagenforschung unerlässlich ist. Dazu bedarf es einer Klärung dessen, was den Gegenstandsbereich der Sozialwissenschaften auszeichnet, für Oevermann ging es um die Erschließung der sinnstrukturierten Welt humaner Praxis. Damit war eine Methodologie zu formulieren, an der er stets weiterfeilte. Oevermann verdammte keineswegs standardisierte Verfahren, er wies sie nur in ihre Grenzen und formulierte schon 1979, dass es nicht darum gehen könne, fallrekonstruktive Verfahren gegen standardisierend subsumierende auszuspielen (siehe auch hier). Genausowenig allerdings hätte er dem zugestimmt, beide einfach nebeneinander existieren zu lassen oder zu mischen, wie es seit einigen Jahren unter dem Label „mixed methods“ geschieht. Vielmehr müssten die Grenzen standardisierter Verfahren anerkannt werden und ihr Einsatz methodisch diszipliniert erfolgen. Das sei aber nur möglich, wenn zuvor eine fallrekonstruktive Bestimmung der Kategorien erfolgt, die zur forschungsökonomischen Abkürzung standardisierter Datenerhebung und -auswertung zum Einsatz kommen sollen. Fallrekonstruktive Forschung sei für Grundlagenforschung unerlässlich, standardisierte Verfahren seien hingegen Abkürzungsverfahren, die aus forschungsökonomischen Gründen zum Einsatz kommen könnten, aber Grundlagenforschung nicht zu leisten im Stande seien. Die methodologischen Ausarbeitungen führten ihn in seiner Abschiedsvorlesung dazu, „Krise und Routine als analytisches Paradigma in den Sozialwissenschaften“ zu bestimmen.
Die Reichhaltigkeit der Lebenspraxis ernst zu nehmen und ihr über ihre Ausdrucksgestalten so nahe zu kommen, wie es eben methodisch möglich war, ohne diese Grenze zu überschreiten, zeichnet die Soziologie Oevermanns in ihrer Vorgehensweise aus. Von daher lag und liegt es nahe, sich mit dem Bedingungslosen Grundeinkommen sozialwissenschaftlich zu befassen, denn die Autonomie der Lebenspraxis als real operierende Strukturgesetzlichkeit, die in ihm eine herausragende Rolle spielt, war aus den Fallrekonstruktionen materialiter hergeleitet worden. Es ist genau dieses Verständnis von fallrekonstruktiver Forschung, das für die Auseinandersetzung mit dem Bedingungslosen Grundeinkommen wichtige Erkenntnisse erlaubt, wenn es darum geht, Einsichten in die Struktur von Lebenspraxis, ihre Bildungsprozesse und die Genese handlungsleitender Überzeugungen zu gewinnen.
Es ist das eine, sozialwissenschaftlich zu forschen, das andere, die Lebenspraxis zu gestalten. Das eine folgt nicht aus dem anderen, kann aber dazu Anlass geben bzw. Argumente bereitstellen.
Wir, die Initiative Freiheit statt Vollbeschäftigung, gedenken Ulrich Oevermanns mit großer Hochachtung und drücken allen, die persönlich um ihn trauern, unser tiefes Mitgefühl aus.
Ein Gedanke zu „Ulrich Oevermann ist gestorben – die Soziologie verliert einen wichtigen Denker“
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