Stefanie Gundert und Laura Pohlan (2022): Materielle und soziale Teilhabe: Mit dem Arbeitsplatz kann man mehr verlieren als nur den Job: https://t.co/QuGZYnOVER
Und ein Interview mit Gundert/Pohlan: https://t.co/t5d4zUZvHe #Arbeitslosigkeit
— Stefan Sell (@stefansell) February 4, 2022
…nun, das mag als Bekräftigung bisheriger Studienergebnisse interessant sein, eine neue Einsicht ist es nicht, man denke nur an „Die Arbeitslosen von Marienthal“. Im Fazit ihres Beitrags schreiben die Autorinnen:
„Arbeitslosigkeit gilt als Risikofaktor für soziale Exklusion, denn die Möglichkeiten zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben hängen – zumindest für Menschen im erwerbsfähigen Alter – eng mit der Teilhabe am Erwerbsleben zusammen.“
Es ist aber nicht einfach die fehlende „Teilhabe“ am Erwerbsleben, die solche Folgen mit sich bringt, sondern die normative Stellung dieser „Teilhabe“. Nicht erwerbstätig zu sein bedeutet, in einem Zustand zu leben, der als unerwünscht gilt. Das betrifft direkt „Menschen im erwerbsfähigen Alter“, aber mittelbar auch Jugendliche und junge Erwachsene, denen daran deutlich wird, welcher Beitrag zum Gemeinwesen vor allen anderen erwartet wird. Gäbe es den normativen Vorrang nicht, hätte Erwerbslosigkeit gar nicht die Bedeutung, die sie heute hat. An einer weiteren Stelle heißt es:
„Je höher im Einzelfall die psychische Belastung durch einen Arbeitsplatzverlust ausfällt, desto eher besteht die Gefahr einer länger andauernden Arbeitslosigkeit und in der Folge einer weiteren Verschlechterung der materiellen und sozialen Lebensbedingungen. Gerade verfestigte Arbeitslosigkeit und eine längere Ab- hängigkeit von Sozialleistungen können zu einer Verschärfung von Teilhabedefiziten führen (Christoph/Lietzmann 2013; Christoph et al. 2015). Um dem vorzubeugen und Langzeitarbeitslosigkeit gar nicht erst entstehen zu lassen, erscheint es wichtig, dass die Betroffenen möglichst schnell und dauerhaft wieder am Arbeitsmarkt Fuß fassen und bei Bedarf dabei unterstützt werden.“
Auch hier vermisst man den Hinweis darauf, dass diese Folgen nicht einfach deswegen auftreten, weil jemand erwerbslos ist, sondern weil die strukturelle Stigmatisierung vom Erwerbsgebot ausgeht und die Einzelnen unterschiedlich mit dieser Stigmatisierung umgehen können. Wer mehr Selbstvertrauen hat und seine Bestätigung weniger in Erwerbstätigkeit sucht, hat mehr Distanz zum Erwerbsgebot, kann sich von seiner Wirkung aber dennoch nicht freimachen, weil es sich um eine Norm handelt und nicht um eine persönliche Neigung. Und eine weitere Passage sei zitiert:
„Wie der vorliegende Bericht zeigt, kann Arbeitslosigkeit das gesellschaftliche Zugehörigkeitsempfinden der Betroffenen beeinträchtigen. Teilhabefördernde Maßnahmen können Ausgrenzungserfahrungen von Menschen in prekären Lebensumständen entgegenwirken und auf diese Weise zur Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts beitragen.“
Die von den Autorinnen empfohlene Kur bewegt sich innerhalb des erwerbszentrierten Sozialstaats und folgt damit ganz seinen Erwartungen, doch hebt sie die stigmatisierenden Folgen gar nicht auf, denn sie gelten auch für Erwerbstätige, und zwar als Zeichen dafür, was folgt, wenn sie nicht mehr erwerbstätig sind. Das Erwerbsgebot entfaltet seine alles jenseits von Erwerbstätigkeit abwertende Wirkung immer und überall.
Sascha Liebermann