Unter dem Titel „Keine Arbeit, kein Leben. Was bedeutet uns der Job“wurde im vergangenen September in der Reihe WestArt Talk über das heutige Verständnis von Arbeit diskutiert. Zur Sprache kam durch Michael Bohmeyer, unterstützt von Inge Hannemann, das Bedingungslose Grundeinkommen. Nachdem der stellvertretende Bürgermeister von Dinslaken Eyüp Yildiz schon zu Beginn starke Worte gefunden hatte und sich als Vertreter des „revolutionären Flügels“ der SPD zu erkennen gab, schien es große Einigkeit in der Runde zu geben, dass das neoliberale System, die neoliberale Ideologie, bekämpft werden müsse. Zu diesem System gehörte es ebenso, die Bedeutung von Selbstverwirklichung im Beruf so stark aufzuladen, wie es heute geschieht. Sabine Donauer, die zu diesem Thema geforscht hat (hier und hier), stellte die These auf, dass die Pflicht zum Spaß an der Arbeit, die Pflicht zur Selbstverwirklichung, vor einigen Jahrzehnten ihren Siegeszug begann und letztlich zur Disziplinierung der Arbeitnehmer diente. Denn niemand könne sich heute mehr in ein Vorstellungsgespräch begeben, ohne sich mit Haut und Haaren dem Unternehmen verschreiben zu wollen. Wer das nicht tue, erwecke den Eindruck, sich nicht mit seiner Arbeit zu identifizieren. In ihrer Forschung hat sie nach eigenen Angaben vor allem untersucht, wie in Selbstdarstellungen von Unternehmen, Beratungsliteratur und anderen programmatischen oder konzeptuellen Schriften über die Bedeutung von Selbstverwirklichung in der Erwerbsarbeit geschrieben wird. Untersucht wurde also nicht, ob diese Konzepte für die Lebensführung von Individuen selbst tatsächlich diese Bedeutung haben und wenn ja, wie sich dies dort zeigt. Das hätte z. B. auf der Basis von offenen Interviews geschehen können. Forschung zu der Frage, welche Bedeutung die Individuierung der Lebensführung hat, so ein terminus technicus, gibt es durchaus. Auch Schlagworte wie Enttraditionalisierung bzw. Säkularisierung und entsprechende Untersuchungen beziehen sich darauf, allerdings auf andere Weise. Sie beziehen sich auf einen Wandel der Lebensführung auf der Ebene der handelnden Individuen und gehen nicht davon aus, dass die „neoliberale Ideologie“ dies erst hervorgebracht habe. Die Veränderung „von unten“ würde, anders als Frau Donauer nahelegte, erst erklären, weshalb in der Ratgeberliteratur und in Unternehmenskonzepten Niederschlag gefunden hat jenseits von Modediskussionen. Es ist die Bedeutung von Erwerbsarbeit als historisch gewachsene Norm, die Individuierung und ihr Gelingen gerade am Erfolg in dieser Sphäre misst.
Nun blieb gegen Ende der Diskussion die Frage, wo und wie angefangen werden könnte mit der Veränderung der Gegenwart, und da herrschte plötzlich keine Einmütigkeit in der Einschätzung der Lage vor (ab Stunde 1:12). Nun war der stellvertretende Bürgermeister von Dinslaken gefragt, wie er denn zum Grundeinkommen stehe. Die Idee sei super, „is ok“, aber wir müssten realistisch sein. Die Welt bestehe nicht nur aus Deutschland und wir unterschätzten die Macht des neoliberalen Systems. Es bestehe die Gefahr, dass Firmen nach Bangladesch gehen würde – wieso und weshalb wurde nicht klar. „Wir müssen erstmal mit dem System anfangen“ – also der neoliberalen Ideologie -, dann kommen die anderen Schritte – wie das BGE-, dafür brauchen wir „einen starken Staat“, eine Staatengemeinschaft die dem neoliberalen System Grenzen setze. Fazit: nur im Großen lässt sich etwas ändern, im Kleinen braucht man gar nicht anzufangen, das wäre naiv.
Ist das nicht genau die Selbstentmachtung, die wir in den letzten Jahren als Unterordnung unter vermeintliche „Sachzwänge“ zuhauf praktiziert haben? Was ist denn das neoliberale System? Wodurch ist es herbeigeführt worden? Waren das nicht Entscheidungen zur Gestaltung des Zusammenlebens, die dafür maßgeblich waren? Als SPD-Mitglied hat Yildiz womöglich aus Loyalität vergessen, wer in den letzten 15 Jahren entsprechende Entscheidungen zu verantworten und die Ausweitung des Niedriglohnsektors ermöglicht hat. Und was, müssen wir fragen, geschieht, wenn die Staatengemeinschaft nicht bereit ist gegen das „System“ vorzugehen? Können wir dann gar nichts machen? Zurecht hielt Bohmeyer dem entgegen, dass wir im Kleinen, bei uns, jeder bei sich, anfangen können, um Veränderungen zu erreichen. Das neoliberale System habe uns aber fest im Griff, entgegnete Yildiz, das merken wir nur nicht – nun ja, er hat es ja offenbar auch gemerkt, weshalb sollte dies anderen nicht ebenso möglich sein. Und wenn es schon bemerkt ist, lässt es sich ändern. Auf die Frage danach, wie Frau Donauer das BGE einschätze, schlug sie die Brücke zur Konsumhaltung und fragte, ob wir bereit wären, auf Konsum zu verzichten und uns mit dem BGE zu bescheiden. Dass dies niemand müsste, darauf wies Bohmeyer treffend hin.
Es hätte nahegelegen, an dieser Stelle zu fragen, inwiefern unsere „Arbeitslust“ und die Konsumhaltung nicht miteinander zusammenhängen, weil Konsum auch Ausdruck erfolgreicher Beteiligung an Erwerbstätigkeit ist, also Ausdruck dessen, einen Beitrag zu dem geleistet zu haben, was als höchstes Gut verstanden wird. Und wenn ein BGE genau diese Verknüpfung auflöste, dann könnte dies eben Folgen für den Konsum haben, weil er an symbolischer Bedeutung (Statussymbol, positionale Güter) verlöre. Die Frage wäre also nicht, ob die Menschen zu verzichten bereit sind, sondern ob sich durch ein BGE auch ihre Haltung zum Konsum verändern würde, weil er nicht dasselbe symbolisierte wie heute. Solche Überlegungen wurden leider nicht angestellt, nur Frau Hannemann ließ durch eine Bemerkung aufblitzen, dass dieser Zusammenhang besteht.
Sascha Liebermann