„Abschaffung des Ehegattensplitting könnte […] Menschen in Arbeit bringen“ – eindimensionale Debatte, weil eindimensionale Ziele

Über etwaige Folgen des in Deutschland existierenden Ehegattensplittings kann unter verschiedenen Gesichtspunkten diskutiert werden, die sich in der Debatte durchaus wiederfinden, z. B. der Verhältnismäßigkeit, der Bevorteilung von Besserverdienern, der Benachteiligung Geringverdienern, die Überbewertung der Ehe usw. Es gibt jedoch Aspekte, die kaum zur Sprache kommen bzw. die die Diskussion dominieren, so z. B. hier „Abschaffung des Ehegattensplittings könnte 500000 Menschen in Arbeit bringen“, also der Zugewinn an Arbeitsplätzen durch Umgestaltung in Individualbesteuerung. Kaum zur Sprache kommt, welche Folgen die weitere Steigerung der Erwerbsquote für das Leben jenseits davon hat. Mehr Erwerbsteilnahme bedeutet weniger Zeit für Familie, Angehörige, Freunde, Ehrenamt. Deutlich wird das in diesem Beitrag:
„Wie hat sich diese Reform [des Ehegattensplittings, SL] vor 50 Jahren in Schweden ausgewirkt? Schweden ist mittlerweile eines der Länder mit der höchsten Erwerbsbeteiligung von Frauen: Fast 85 Prozent aller 25- bis 54-jährigen Frauen gehen einer Beschäftigung nach, und es gibt keine großen Unterschiede mehr im Erwerbsverhalten von Männern und Frauen oder von verheirateten und unverheirateten Frauen. Das war nicht immer so. In den 1960er-Jahren, also vor der Reform, lag die Erwerbstätigenquote verheirateter Frauen auch in Schweden nur bei rund 50 Prozent.“(Nicola Fuchs-Schündeln, Michèle Tertilt, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Anfang Juni)

Die Besteuerung wird hier in Zusammenhang mit dem Erwerbsverhalten gebracht, auch wenn die Autorinnen vorsichtig sind, Veränderungen aus der Steuerreform in Schweden direkt abzuleiten. Denn gesamtgesellschaftliche Veränderungen in der Deutung von Geschlechterpositionen, also Veränderungen in normativer Hinsicht, spielen dafür, dass solche Reformen möglich sind, eine nicht unerhebliche Rolle. Ganz frei von der Tendenz, direkte Folgen aus der Steuerreform zu ziehen, sind die Autorinnen dennoch nicht, obwohl ihnen sicher bekannt ist, dass Korrelation nicht dasselbe wie Kausalitäten sind. Gleichwohl ist das Ziel deutlich: es geht um die Erhöhung der Erwerbsquote. Sie erwähnen nur indirekt im weiteren Text, dass es hierzu eines weiteren Ausbaus von Kinderbetreuungseinrichtungen bedarf, was genau aber heißt, weniger gemeinsame Zeit zu haben, weniger Erfahrungen miteinander zu machen. An der Quote der Betreuung von Kindern in Tageseinrichtungen lässt sich diese Entwicklung gut ablesen, ebenso an der Absenkung des Zugangsalters und der Ausdehnung der Betreuungszeiten. Der Ausbau von Ganztagsschulen sowohl im Primar- als auch im Sekundarbereich bezeugt das ebenfalls. Das Ehegattensplitting ist eine Form, in der die Entscheidung, weniger bzw. gar nicht erwerbstätig zu sein steuerlich unterstützt wird, sofern man es sich leisten kann. Für Geringverdiener gilt das z. B. kaum (Wirkungen des Ehegattensplittings auf Geringverdiener hat einst Axel Troost ermittelt). In der Debatte, das ist auffällig, gilt ein Ziel als gesetzt: die Erhöhung der Erwerbsteilnahme. Andere werden kaum diskutiert, z. B. mehr Freiraum für Nicht-Erwerbstätigkeit zu schaffen.

Entsprechend geht es in dem oben zitierten Beitrag vor allem darum, wie die Grenzsteuerbelastung für den Zweitverdiener in Folge des Ehegattensplittings aussieht. Die Autorinnen rechnen die steuerlichen Nachteile vor und schließen von dort direkt auf das Handeln:
„Wenn dann noch Kinderbetreuungskosten anfallen und Sozialversicherungsbeiträge mit eingerechnet werden, entscheiden sich insbesondere Mütter oft gegen das Arbeiten.“ (ebenda)

Hier würde man gerne wissen, wie zu dieser Schlussfolgerung gelangt wurde. Die entscheidende Frage ist doch, welche Überlegungen auf Seiten der Mütter für die Entscheidungsfindung maßgeblich sind. Dass dies vor allem oder gar ausschließlich am Einkommenszugewinn hängt, ist unplausibel, denn Entscheidungen werden nicht derart eindimensional getroffen. Wer aber Schlussfolgerungen auf der Basis  des Arbeitsleidtheorems oder einer der sogenannten Armutsfalle verwandten Annahme zieht, muss zu eindimensionalen Antworten gelangen. Eine standardisierte Befragung, wie sie – wie in diesem Feld üblich (auch in der jüngst veröffentlichten Studie des RWI) – vermutlich zum Einsatz gekommen ist, kann Beurteilungen abfragen, die den Befragten als Begründung vertraut sind. Da in solchen Befragungen die Befragten nicht in ihren eigenen Worten sich ausdrücken können, sondern auf der Basis einer Skala aus vorgegebenen Werten bzw. Antworten wählen, lässt sich über die Widersprüche in einer Begründung ihrer Entscheidung nichts in Erfahrung bringen. Eine Kontrollfrage kann hier bestenfalls darauf hinweisen, dass Antworten sich widersprechen. In der fallrekonstruktiven Forschung hingegen, die mit offenen Forschungsgesprächen arbeitet, also nicht-standardisierten Daten, ist es jedoch ein bekanntes Phänomen, dass vermeintlich eindeutige Begründungen, die zu Beginn einer Antwortsequenz gegeben werden, sich als ganz und gar nicht eindeutig in der Folge erweisen. Häufig findet sich die Eindeutigkeit nur an der Oberfläche, vielleicht als erste, impulsive Reaktion auf eine Frage, ist aber im Verlauf des Gesprächs nicht von Bestand, die Diskrepanz zwischen der ersten Antwort und den weiteren Ausführungen kann erheblich sein. Entscheiden sich Mütter tatsächlich der steuerlichen Grenzbelastung wegen gegen die Ausweitung ihrer Erwerbstätigkeit oder weil sie um die Folgen für das Familienleben, die reduzierte Erfahrung miteinander, wissen und sie nicht wollen? Wäre die Entscheidung gegen eine Ausweitung von Erwerbstätigkeit dann nicht geradezu naheliegend? Hier muss auch in Betracht gezogen werden, wie stark der Konsens bezüglich Erwerbsteilnahme ist und wie stark die soziale Ächtung derer, die dem nicht folgen. Im Grunde stellt sie sich für Väter auch, nur verhält es sich hier eher umgekehrt, denn Väter sind in der Regel werktags ohnehin überwiegend abwesend, ihnen fehlen viele Alltagserfahrungen mit Familie insbesondere ihren Kindern.

Die Autorinnen vergleichen in ihrem Beitrag gegen Ende die Erwerbsteilnahme von Frauen in Deutschland mit der in anderen Ländern:

„Das Arbeitsangebot setzt sich zusammen aus der Erwerbstätigenquote, also dem Anteil verheirateter Frauen, die arbeiten, und den Arbeitsstunden pro erwerbstätiger Frau. Bei der Erwerbstätigenquote verheirateter Frauen liegt Deutschland mit 78 Prozent im europäischen Vergleich im Mittelfeld. Allerdings bildet Deutschland bei den Arbeitsstunden pro erwerbstätiger Frau das Schlusslicht innerhalb Europas. Im Durchschnitt arbeiten erwerbstätige verheiratete Frauen in Deutschland 22 Stunden pro Woche, in Frankreich und Schweden dagegen 28 Stunden und in den Vereinigten Staaten sogar 34 Stunden. Nur circa ein Viertel der verheirateten Frauen in Deutschland arbeiten Vollzeit.“

Hier wird nochmals deutlich, dass es in der gesamten Argumentation nur um Erwerbsteilnahme geht und das Ehegattensplitting daraufhin betrachtet wird, ob es diese eher fördere oder mindere. Abgesehen davon, ob das Splitting tatsächlich der Grund dafür ist oder nicht doch eher komplexere Erwägungen eine Rolle spielen, könnten die Fragen gestellt werden, wie denn mehr Zeitsouveränität möglich wäre, wie denn alle wichtigen Lebenssphären zur Geltung gelangen können und ob Sicherungsleistungen nicht vor allem die Entscheidungsmöglichkeiten der Bürger maximieren sollten, statt sie in eine Richtung zu lenken. Ein Bedingungsloses Grundeinkommen stellt andere Fragen, ermöglicht andere Antworten und ist nicht auf Erwerbsteilnahme fixiert, es favorisiert Leistung in einem breiten Sinne, ganz gleich ob sie von Menschen erbracht wird oder von Maschinen.

Siehe auch unsere früheren Beiträge zum Ehegattensplitting.

Sascha Liebermann