Der Kategorienfehler der Gewerkschaften schlechthin:
Integration in Arbeitsmarkt = demokratische Integration
Demokratische Integration gilt Person an sich, nie ihrer Funktionsträgerschaft.
Funktionsträgerschaft ist künd- & übertragbar, der Bürgerstatus nicht: Lohn vs. #BGE. https://t.co/FRvERcWwOr
— BGE Eisenach (@bge_esa) July 23, 2022
Die Antwort von BGE Eisenach macht auf ein Missverständnis aufmerksam, das in dieser Diskussion immer wieder anzutreffen ist und mit einer Verunklärung des Demokratiebegriffs einhergeht. Dass es stets die Rechtsgemeinschaft der Bürger ist, die Rechte garantieren und ihnen zur Durchsetzung (mittels Gewaltenteilung) verhelfen muss, ist unstrittig. Während aber die Bürger als Bürger die Rechtsordnung tragen, bewegen sich Erwerbstätige als Erwerbstätige nur in ihrem Geltungsbereich, sind aber weder deren Legitimationsquelle noch ihr Träger. Während den Bürgern als Individuen ein Status zukommt, der ihnen nicht genommen werden kann, kann nicht nur jeder Erwerbstätige diesen Status verlieren, er muss ihn auch verlieren können, weil Erwerbstätigkeit kein Selbstzweck ist, die Gemeinschaft der Bürger ist aber Selbstzweck. Dass schon T. H. Marshall, auf den der Begriff „industrial citizenship“ zurückgeht, hier missverständlich argumentierte, macht die Sache nicht besser, immerhin aber wird bei ihm deutlich, dass das System von Kollektivrechten in Arbeitsverhältnissen nicht von denjenigen konstituiert wird, die diese Rechte zugleich in Anspruch nehmen. Deutlich wird die Vermischung bzw. Verkürzung dieses Zusammenhangs in der Kurzfassung eines Vortrags von Bettina Kohlrausch. Dort heißt es z. B.:
„Diese Rechte leiten sich vom Status der Erwerbstätigkeit ab. Sie schaffen Strukturen, aus denen sozialer Zusammenhalt entstehen kann, und sie garantieren soziale Anerkennung. Es mag pathetisch klingen – aber Erwerbsarbeit hilft uns selbst zu sehen und anderen zu zeigen, welchen Platz wir in dieser Gesellschaft eingenommen haben.“
Wie ist es zu verstehen, dass diese Rechte sich „ableiten“? Vielmehr schützen diese Rechte diejenigen, die in Erwerbsverhältnissen stehen, die politische Gemeinschaft hat sich dazu entschieden, dass es diese Rechte geben soll, von ihrem Willen leiten sie sich genau genommen ab. Was ist mit „sozialer Zusammenhalt“ gemeint? Erwerbsverhältnisse kennen Kollegenschaft, weil man einem gemeinsamen Zweck dient, der jedoch von der Person ablösbar ist, sie ist auf diesen Zweck bezogen austauschbar. Genau das gilt für den Bürgerstatus nicht, Bürger sind nicht austauschbar, sie können den Status nicht verlieren, Erwerbstätige hingegen können ihn verlieren. Zusammenhalt muss sich dann am Zweck der Kollegenschaft bestimmen, auf diesen hin zusammenzuhalten, solange man zur Kollegenschaft gehört. Gehört man nicht mehr zu ihr, fällt der Zusammenhalt und sein Grund dafür weg. Auch das ist bei Staatsbürgerschaft nicht der Fall. Was für den Zusammenhalt in Erwerbstätigkeit gilt, gilt ebenso für die sich darauf beziehende Anerkennung. Dass nun der „Platz […] in dieser Gesellschaft“ damit in Zusammenhang steht, ist gerade kritikwürdig, weil nicht angemessen.
Weiter heißt es:
„Damit Erwerbsarbeit auch unter den Bedingungen der Digitalisierung oder der sozial-ökologischen Transformation ein Ort sozialer und demokratischer Integration sein oder wieder werden kann, brauchen wir einerseits eine Stärkung der Tarifbindung und der betrieblichen Mitbestimmung, wie es Gewerkschaften ja schon lange fordern. In tarifgebundenen und mitbestimmten Unternehmen sind die Arbeitsbedingungen im Schnitt deutlich besser.“
Auch hier wiederum ist die Formulierung missverständlich, denn der Integrationsmaßstab (siehe auch hier), an dem sich Erwerbstätigkeit orientiert, ist Leistungsbereitschaft. Integriert wird, wer leistungsbereit ist und eine Aufgabe den Erfordernissen gemäß erledigen kann, wer nicht, der muss gehen oder andersherum betrachtet: ein Unternehmen droht Mitarbeiter zu verlieren, wenn es die Bedingungen dafür nicht bereitstellen kann. Ob mit oder ohne Tarifbindung – es bleibt ein Erwerbsverhältnis, das der Einzelne schnell verlieren bzw. aufgeben kann, ohne seine Staatsbürgerschaft zu verlieren, sie ist unverfügbar, der Erwerbstatus ist verfügbar.
Dass Schutzrechte für Arbeitsverhältnisse eine Errungenschaft sind, soll hier gar nicht bestritten werden. Vom Himmel gefallen sind sie nicht, es war ein langes Ringen nötig. Doch die Übertragung der Begriffe Demokratie und Staatsbürgerrechte auf Erwerbsverhältnisse ist nicht nur missverständlich, ich würde darin sogar den Grund dafür sehen, dass Erwerbstätigkeit den verherrlichten Status innehat, den sie innehat, Emanzipation wie Würde an sie gebunden werden.
Sascha Liebermann