In der Aprilausgabe von brand eins ist ein Beitrag über die Volksinitiative zum Bedingungslosen Grundeinkommen in der Schweiz erschienen. Der Verfasser, Andreas Molitor, berichtet über die Debatte und schreibt unter anderem dies:
„Am 21. April beginnt die Aktion. Wenn binnen 18 Monaten 100000 Menschen unterschreiben, kann das Schweizer Volk über das Grundeinkommen abstimmen. Allerdings sind selbst die engagiertesten Verfechter skeptisch, ob sie die Mehrheit der Bevölkerung schon im ersten Anlauf hinter sich bringen können. Dabei ist die Schweizer Grundeinkommens-Debatte seit Langem viel engagierter, bunter und konkreter als in Deutschland, wo sie über akademische Zirkel kaum hinausgekommen ist. Was Götz Werner, in Deutschland der Kantor der Bewegung, sich seit Jahren wünscht, nämlich ein epidemisches Ausbreiten der Idee – im Nachbarland ist sie auf bestem Wege.“
Hm, zuerst einmal staunte ich. Die jüngere Grundeinkommensdiskussion in Deutschland, die 2004 einsetzte, ist nun gerade keine akademische wie in den achtziger Jahren. Wenn sie als solche wahrgenommen wird, liegt es an Journalisten, die engagierte Bürger gerne mit ihrem akademischen Hintergrund zitieren. Entscheidende Anstöße gingen gerade von Bürgerinitiativen aus und nach wie vor sind es Bürgerinitiativen oder interessierte Bürger, die die Diskussion tragen. Die meisten Veranstaltungen zum Grundeinkommen richten sich an eine interessierte Öffentlichkeit, die wenigsten an Fachpublikum. Selbstverständlich sind manche Befüworter Akademiker, aber deswegen ist es keine akademische Debatte. Das lässt sich für die vergangenen Jahre leicht im Archiv Grundeinkommen nachprüfen. Selbstverständlich rief die öffentliche Diskussion akademische Reflexe hervor, sie folgten ihr, gingen aber nicht voraus. Molitor verdreht die Verhältnisse.
Mit keinem Wort wird erwähnt, das bis zum Sommer 2006 (in nur zwei Jahren!) die öffentliche Diskussion offenbar so viel Druck hatte entstehen lassen, dass alle etablierten Parteien wie auch Interessenverbände sich zum Grundeinkommen äußerten. Der Vorschlag eines Solidarischen Bürgergelds des damaligen Ministerpräsidenten Althaus wurde nicht zufällig in genau diesem Sommer veröffentlicht. Die Diskussion in der Schweiz ging eigene Wege und folgte der in Deutschland nach, sie ging ihr nicht voraus. Die Initiative Grundeinkommen Basel, die wohl am meisten für die öffentliche Diskussion geleistet hat, wurde 2006 gegründet und ist seitdem sehr aktiv. Zu diesem Zeitpunkt wurde in Deutschland aber schon seit zwei Jahren in den Medien über den Vorschlag berichtet (siehe wiederum Archiv Grundeinkommen, hier und einen Artikel in brand eins). Dass in Deutschland die Petition von Susanne Wiest (2009) nochmals für einen Aufschwung sorgte, wird nicht einmal erwähnt.
Noch bis vor etwa zwei Jahren war die öffentliche Resonanz in der Schweiz mäßig (das weiß ich auch von den verschiedenen Veranstaltungen, zu denen ich eingeladen war). Lokale Initiativen wie in Deutschland (mittlerweile ca. 90) gab es kaum. Viel bewegt hat sich in der Schweiz nun vor allem, seitdem das Bestreben öffentlich gemacht wurde, eine Volksinitiative zu lancieren. Bunt und engagiert wird auch in Deutschland diskutiert – jenseits gewohnten Lagerdenkens. Einzig fehlt bislang ein Mittel, über das die Schweizer verfügen: die Volksinitiative. Weil es fehlt, müssen wir andere Wege gehen.
Hätte Molitor einmal die Medienberichterstattung unter die Lupe genommen, wäre ihm aufgefallen, dass noch bis letztes Jahr nur wenige Artikel in großen Schweizer Tages- oder Wochenzeitungen erschienen sind (manche davon von deutschen Autoren). Das von ihm erwähnte Interview mit Theo Wehner (und mir) wurde eben in Die Zeit, einer deutschen Wochenzeitung, und nicht in der Neuen Zürcher Zeitung, dem Tagesanzeiger oder der WOZ abgedruckt.
An anderer Stelle heißt es:
„Die Schweizer Debatte hat einen anderen Groove als bei den deutschen Nachbarn. Hierzulande wird das Grundeinkommen vor allem als sozialpolitisches Reparaturwerkzeug diskutiert, eine Art weich gespülte Alternative zu Hartz IV. Weil die Sozialsysteme an ihre Grenzen stoßen und die bisherigen Reparaturmaßnahmen (von Tony Blairs Welfare to Work bis zu Gerhard Schröders Agenda 2010 mit Hartz IV) nur eine begrenzte Wirkung hatten, geht es – je nach ideologischem Standpunkt – um Armutsbekämpfung und Existenzsicherung oder um eine effizientere, also billigere und transparentere Sozialpolitik.“
In der Tat gibt es diese Positionen, die eine wie die andere, aber sie machen nicht die deutsche Debatte aus, schon gar nicht dominieren sie diese. Das hätte Herr Molitor herausgefunden, wenn er sich angeschaut hätte, welche Personen die meisten Vorträge in den letzten Jahren bestritten haben.
Vielleicht wollte der Artikel nur wichtig tun oder ein wenig Bashing betreiben. Wer sich für einen Überblick (bis 2008) zur deutschen Diskussion interessiert, wird hier fündig. Im Sommer werden zwei Sammelbände in englischer Sprache erscheinen, in denen ich die deutsche Diskussion darstelle (bis 2011), siehe hier und hier. Eine deutsche Fassung liegt noch nicht vor. Eine weitere Übersicht gibt es beim Netzwerk Grundeinkommen.
Sascha Liebermann