Die Sorge vor dem Kontrollverlust – als gebe es diese Kontrolle heute

Eine Erfahrung, die ich in Diskussionsveranstaltungen immer wieder mache, ist die Sorge vor Kontrollverlust, der – so die Befürchtung – mit einem Bedingungslosen Grundeinkommen einhergehe. Wie wollte man sicherstellen, dass der Einzelne noch einen Beitrag leisten würde? Wenn es ein BGE gäbe, würde noch mehr „Schrott“ konsumiert, würden Eltern gezielt Kinder in die Welt setzen, weil sich damit Geld verdienen lasse oder nutzten „viele“ es, um gar nichts mehr beizutragen. Das sind einige Beispiele an Äußerungen, mit denen ich immer wieder konfrontiert bin. Um welche Kontrolle geht es? Offenbar um die darüber, was der Einzelne so mit seinem Leben macht.

Nun kann man sich solche Fragen stellen, frappierend ist allerdings die Gewissheit, mit der diese Einschätzungen vorgetragen werden. Woher rührt sie, worauf berufen oder beziehen sich diejenigen, die solche Bedenken vorbringen? – Frage ich nach, um das in Erfahrung zu bringen, erhalte ich keine Hinweise auf irgendwelche Studien, auch nicht solche auf eindrückliche Erfahrungen, die der Betreffende gemacht hat (siehe hierzu auch diese Buchbesprechung). Bestenfalls berufen sich die Einschätzungen auf Erfahrungen Dritter, die jemanden kennen, der jemanden kennt, aber das wisse man nun wirklich ganz genau.

Dieses Phänomen kennt keine Altersgrenzen, ganz gleich, mit welcher Altersgruppe ich zu tun hatte – seien es Schüler der Oberstufe eines Gymnasiums, seien es jüngere oder ältere Erwachsene. Frage ich, nachdem deutlich wurde, dass diese Einschätzungen mehr oder weniger erfahrungslos vorgebracht werden, nach, weshalb derjenige so sicher ist, dann bleibt letztlich nur eine feste Meinung übrig. Woher rührt dann die Einschätzung? Schon im Alltag im eigenen Umfeld lässt sich leicht die Erfahrung machen, dass die oben genannten Besorgnisse in der Regel ganz andere Hintergründe haben als die in Diskussionen häufig angegebenen, sowohl bei denen, die sie vorbringen, als auch bei denen, die als Beispiele für die Besorgnisse angeführt werden. Weder folgen Entscheidungen der Lebenspraxis kalkulatorisch utilitaristischen Überzeugungen oder Strategien (das ist allenfalls der Grenzfall und erklärungsbedürftig), noch tritt Verantwortungsverweigerung einfach so auf, weil jemand keine „Lust“ hätte (ähnlich wie beim Gebrauch des Attributs faul, wenn jemand, der sich ausruhen oder gerade müßig einer Sache folgen möchte, das damit beschreibt, dass er gerade „faul“ sei). Dahinter stehen unter anderem erhebliche Beeinträchtigungen über den gesamten Bildungsprozess einer Person, familiale Dynamiken mit zerstörerischer Wirkung und Vernachlässigung (quer durch alle Schichten, anders als es Mittelschichtsangehörige mit höheren Bildungsabschlüssen häufig meinen). Was so leichtfertig dahergesagt wird und nicht von der Erfahrung gedeckt ist, könnte also andere Gründe haben. Anstöße dafür, womit das zu tun haben könnte, finden sich z. B. bei Max Weber und Theodor W. Adorno. Weber schreibt:

„Daß der Deutsche draußen, wenn er das gewohnte Gehäuse bürokratischer Bevormundung um sich herum vermißt, meist jede Steuerung und jedes Sicherheitsgefühl verliert, — eine Folge davon, daß er zu Hause sich lediglich als Objekt, nicht aber als Träger der eigenen Lebensordnungen zu fühlen gewohnt ist —, dies eben bedingt ja jene unsichere Befangenheit seines Auftretens, welche die entscheidende Quelle seiner so viel beklagten »Fremdbrüderlichkeit« ist. Und seine politische Unreife ist, soweit sie besteht, Folge der Unkontrolliertheit der Beamtenherrschaft und der Gewöhnung der Beherrschten daran, sich ohne eigene Anteilnahme an der Verantwortlichkeit und folglich ohne Interesse an den Bedingungen und Hergängen der Beamtenarbeit ihr zu fügen.“ (Max Weber (1988 [1918]), „Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland“, in: Gesammelte politische Schriften, Tübingen: Mohr, S. 285)

Was weit vor Bestehen der politischen Ordnung in ihrer heutigen Form geschrieben wurde, wirkt dennoch aktuell. In der Tat ist es eine erstaunlich häufig zu machende Erfahrung, dass, wenn es um die Frage der Gestaltung der Lebensverhältnisse geht, informierte Diskutanten vor allem betonen, welche Sachzwänge herrschen, denen nicht ausgewichen werden könne. Diese Art von Selbstentmachtung ist so erstaunlich, wie sie zugleich erschreckend ist. Dazu passt ein anderes Zitat, an dem ein anderer Aspekt in BGE-Diskussionen deutlich wird. Fünfzig Jahre alt, von Theodor W. Adorno, ebenso aktuell wie das erste:

„Wohl ist Amerika nicht mehr das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, aber man hat immer noch das Gefühl, daß alles möglich wäre. Begegnet man etwa in soziologischen Studien in Deutschland immer wieder Aussagen von Probanden wie: Wir sind noch nicht reif zur Demokratie, dann wären in der angeblich so viel jüngeren Neuen Welt derlei Äußerungen von Herrschgier und zugleich Selbstverachtung schwer denkbar.“ (Adorno, Theodor W. (1982 [1969]): Wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika. Gesammelte Schriften 10.2, Frankfurt: Suhrkamp, S. 735)

Sich selbst Mündigkeit abzusprechen bedeutet, eine der Grundfesten der politischen Ordnung in Deutschland zu negieren. Das ist in der Tat eine nicht selten anzutreffende Haltung und sie paart sich gerade damit, zugleich allzuleicht über andere zu urteilen. Selbstverachtung und Herrschgier – zwei Seiten einer Medaille. Veränderungen diesbezüglich vollziehen sich offenbar viel langsamer, als man meinen sollte.

Siehe zu diesen Fragen meinen Kommentar zu Ausführungen Jakob Augsteins und diesen zu Ausführungen des Staatsrechterls Ernst-Wolfgang Böckenförde zu den Voraussetzungen der Demokratie. Siehe auch meinen Kommentar „‚Zweifel an diesem idealisierten Menschenbild‘ – oder der Preis der Demokratie“. Siehe auch Theodor W. Adorno und Arnold Gehlen über Mündigkeit (Ausschnitt aus dem Gespräch).

Sascha Liebermann