In einem Interview mit dem Tagesspiegel, vom 25.12.19, äußerte sich der Wirtschaftsethiker Dominik Enste wieder einmal auch zum Bedingungslosen Grundeinkommen. Hier die entsprechende Passage:
„[Tagesspiegel] Apropos Grundeinkommen: In verschiedenen Varianten wird seit Jahren auch die Einführung eines Grundeinkommens diskutiert. Halten Sie das für einen aussichtsreichen Ansatz, um die solidarische Gesellschaft zu stärken?
[Enste] Nein. Das ist eine Sackgasse. Ein bedingtes Grundeinkommen könnte zum vielfach beklagten Bürokratieabbau im Sozialsystem beitragen, ohne das Fundament der Finanzierung der Sozialleistungen zu zerstören. Solidarität hingegen wird durch die bedingungslose Gewährung von Leistungen zerstört. Es gibt schlichtweg – zumindest auf Erden – nichts bedingungslos, oftmals [Heraushebung SL] nicht einmal die Liebe der Eltern: denn selbst Eltern fällt es leichter ihre Kinder zu lieben, wenn die Kinder ihnen ab und zu ein Lächeln schenken oder die Jungs in der Pubertät ab und zu mal duschen.
… eine harte Analyse …
Klar, als Verhaltensforscher und Ethiker mache ich mir da keine Illusionen: Warum sollte ich einem wildfremden Menschen etwas von meinem Geld, Ersparten oder meiner Zeit abgeben, wenn er keine Gegenleistung erbringt?“
Analyse? Davon kann nicht die Rede sein, eher handelt es sich wohl um eine undifferenzierte Abwehr der Erfahrung von Bedingungslosigkeit – das Beispiel ist bezeichnend. Enstes Verdrehungen zu Reziprozität habe ich schon einmal kommentiert, es ist überraschend, dass er sich auf ein differenziertes Verständnis von Reziprozität so gar nicht einlassen will und noch die groteskesten Beispiele anführt (siehe meinen früheren Kommentar zum Lächeln des Säuglings als Gegenleistung), um an einer bestimmten Deutung festzuhalten. Was er hier als Einsicht des „Verhaltensforschers“ herausstellt, bezeugt vor allem mangelnde Differenzierung. Er unterscheidet nicht einmal zwischen den unterschiedlichen Folgen einer in der Regel vorbehaltlosen und einer in der Regel („oftmals“) vorbehaltvollen Zuwendung für die Entwicklung eines Kindes, als mache beides keinen Unterschied.
Zu denken geben müsste ihm darüber hinaus, dass 1) in der politischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland die Stellung der Staatsbürger eben eine bedingungslos gewährte ist (Art. 20 (2) GG), die keinerlei Vorbehalt – also auch keine einforderbare Gegenleistung – kennt; 2) es wissenschaftliche Disziplinen, wie z. B. die Entwicklungspsychologie, die Ethnologie und die Soziologie gibt, die eben auch einen Begriff der Reziprozität kennen, der mit dem Leistungs-Gegenleistungsverständnis gar nichts gemein hat. Reziprozität gibt es dort in der von Enste zitierten, wie auch in der anderen Form einer vorbehaltlosen Anerkennung der Person um ihrer selbst willen. Beides muss nicht nur auseinandergehalten werden, die bedingungslose Reziprozität ist die basale, das lässt sich gerade an Prozessen der Sozialisation ablesen.
Sascha Liebermann