Ist unvoreingenommene Forschung möglich, wenn man zugleich von etwas praktisch überzeugt ist?

Sinngemäß stellt der Schweizer TagesAnzeiger diese Frage Jens Martignoni am Ende eines Interviews über das Grundeinkommensprojekt in Rheinau (Schweiz). Da mir diese Frage schon öfter gestellt wurde, ist es ein willkommener Anlaß, dazu etwas aus Sicht der Forschung zu sagen.

Wer mit wissenschaftlichem Arbeiten vertraut ist und die Eigenheiten von Forschung kennt, wird die Frage des TagesAnzeigers für überraschend und banal halten. Methodisch disziplinierte Forschung auf der einen und Befürwortung eines praktischen Vorhabens aus Überzeugung auf der anderen Seite sind zwei Paar Schuhe. Für eine der Überprüfbarkeit (Falsifikation) verpflichtete, methodisch diszipliniert arbeitende Wissenschaft ist es entscheidend, auf der Basis verfügbarer Daten (ganz gleich welchen Typs) zu Schlussfolgerungen zu gelangen. Daten benötigt es, damit nachvollzogen und geprüft werden kann, wie zu Schlussfolgerungen gelangt wurde. Zugleich ist damit deutlich gemacht, dass methodisch disziplinierte Schlussfolgerungen sich immer nur auf Zusammenhänge in der Vergangenheit richten können, denn nur darüber können Daten Auskunft geben. Jeder Blick nach vorne, in die Zukunft, ist damit nicht mehr methodisch diszipliniert möglich, das lässt sich sehr gut an Schätzverfahren ablesen, die für Prognosen genutzt werden, um auf der Basis von gesetzten Annahmen (bestenfalls aus der Vergangenheit rekonstruiert), Aussagen über etwaige Veränderungsmöglichkeiten in der Zukunft zu treffen. Allerdings: Handlungsfolgen für die Zukunft zu bestimmen, ohne dass die Zukunft schon etwas hervorgebracht haben kann, das als Datum eine Erforschung erlaubt, ist keine strenge Wissenschaft mehr.

Es reicht indes nicht aus, Daten zu nutzen, es muss auch transparent sein, wie diese Daten gewonnen wurden. Datentypen müssen eigens bestimmt werden, um sagen zu können, was sich aus ihnen schließen lässt und was nicht. Als nächstes müssen die Auswertungswege, also Verfahren, klar ersichtlich sein, weil nur so Schlussfolgerungen nachprüfbar sind.

Wer also eine Studie und ihre Ergebnisse beurteilen können will, muss sich letztlich die Mühe machen, Datenerhebung, Datenqualität und Datenauswertung nachzuvollziehen. Diese drei Aspekte betreffend herrscht die größte Leichtfertigkeit in der öffentlichen Diskussion, auch die wissenschaftlichen Disziplinen sind davon nicht frei, weil nicht selten erstaunlich unreflektiert mit Datentypen und Schlussfolgerungen umgegangen wird.

Diese hier kurz skizzierten grundlegenden Zusammenhänge gelten für alle Datentypen und Verfahren in den Sozialwissenschaften, ganz gleich, ob es sich um die stärker verbreitete Forschung mit standardisierten Daten und Auswertungsverfahren (sogenannte „quantitative“ Forschung/ Statistik) oder aber um Forschung auf der Basis nicht-standardisierter Daten (sogenannte, aber nicht klar abgegrenzte, „qualitative“ Forschung) handelt.

Nun kommt der Fall nicht so selten vor, dass entweder Datenlage, die Datenqualität oder die Auswertungsverfahren unbefriedigend sind, das lässt sich dann an der entsprechenden Studie leicht aufzeigen (ein besonders fahrlässiger Fall hier). Es gibt jedoch auch verschiedene methodische Traditionen in den Sozialwissenschaften, zwischen denen teils ideologische Abgrenzungsverhältnisse herrschen, so dass die eine der anderen vorwirft, nicht wissenschaftlich zu sein bzw. keine allgemeinen Aussagen aufgrund einer geringen Fallzahl treffen zu können. „Harte Forschung“, so heißt es dann, sei nur auf der Basis von Massendaten (also großen Datenmengen) oder mathematisch abgestützt (Schätzverfahren, Statistik) möglich. Das führt nun aber direkt in die Methodologie- und Methodendiskussion, die ich hier nicht weiter darlegen will (grundsätzliche Überlegungen dazu finden Sie hier und hier).

Für die Aussagekraft von Forschungsergebnissen spielt es folglich überhaupt keine Rolle, welche praktischen Überzeugungen jemand hat, denn seine Forschung muss an der Durchführung beurteilt werden. Ist an ihr zu erkennen, dass sie ohne Vorbehalte und ohne Voreingenommenheit erfolgt ist oder nicht – das ist entscheidend. Würden Überzeugungen so etwas verunmöglichen, könnte es gar keine Forschung geben, die den oben skizzierten Maßstäben genügt, denn Überzeugungen hat jeder, das gehört zum Menschsein dazu. Nicht selten ist es sogar so, dass dort, wo ein Nüchternheitspathos gepflegt und absolute Neutralität behauptet wird, die stärksten Werturteile in die Forschung hineingeragt haben. Das wusste schon Max Weber in seinem berühmten Vortrag über „Wissenschaft als Beruf“, dessen Ausführungen an Bedeutung nichts eingebüßt haben.

Sascha Liebermann