…ein Interview mit Remo Largo im Schweizer Radio SRF3 (auf Dialekt, Züridüütsch). Ähnlich wie in diesem Gespräch argumentiert Largo in mancher Hinsicht im Interview mit Die Zeit aus dem Jahr 2018. Das Gespräch ist vielfältig, Largo ist kein Ratgeber, der mit Empfehlungen aufwartet, eher analysiert er und zieht Schlüsse, da ist er ganz Entwicklungsforscher, der an Langzeitstudien gearbeitet hat.
Elternurlaub, so Largo, sei nicht nur wichtig dafür, dass das Kind sich an die Eltern „binden“ kann, es gilt gleichermaßen für die Eltern, die sich überhaupt erst dem öffnen müssen, dass sie nun Eltern sind. Auch ihre Beziehung zu ihrem Kind muss sich erst entwickeln. Das aber sei heute schwierig, weil die Bedeutung von Leistung in der Erwerbstätigkeit größer denn je sei. Was Largo treffend als Problem beschreibt, führt er aber nicht weiter, um zu deuten, woher es kommt, dass sich Väter in der Regel so schwer damit tun, nach der Geburt eines Kindes, ihr Erwerbsengagement zu reduzieren statt beizubehalten oder gar auszudehnen.
Irritierend ist, das war auch im oben erwähnten Zeitinterview schon der Fall, wie Largo über die heutigen Familienverhältnisse im Allgemeinen spricht. Als lebe diese Familie völlig isoliert, sei ein abgeschottetes Gefüge, ohne dies weiter zu erläutern. Zum einen muss man sich vor Augen halten, dass die Herausbildung der Kernfamilie, wie wir sie in unseren Breiten können, erst den Raum für die Individuierungsprozesse bildet, die wir heute für so erstrebenswert und selbstverständlich halten. Sie sind historisch keineswegs selbstverständlich, dominierte in archaischen Gesellschaften die Unterwerfung unter die Tradition als Ziel der Sozialisation. Die heutige Kernfamilie geht allerdings zugleich mit besonderen Herausforderungen an die Eltern einher, entsprechende Erfahrungsmöglichkeiten inner- wie außerfamilial zu schaffen, die Individuierungsprozesse fördern. Das benötigt Zeit für das Familienleben, an der es nun aber gerade durch die forcierte Erwerbsorientierung fehlt. Die über einen längeren Zeitraum schon steigende Bedeutung von Ganztagsbetreuung von der Krippe über den Kindergarten bis zur Schule ist die andere Seite des Vorrangs von Erwerbstätigkeit. Einher geht diese Entwicklung mit der Einschränkung von Erfahrungsmöglichkeiten freien Spiels durch organisierte Betreuung, geringere Erkundung des lebenspraktischen Nahraums durch Kinder, weil sie die meiste Zeit über den Tag nicht zuhause sind. Das Herumstromern, vor wenigen Jahrzehnten noch selbstverständlicher Bestandteil der Kindheit findet heute auch erheblich weniger Gelegenheiten. Das Leben ist heute also viel organisierter, verplanter, die Zeit für müßiges Zusammensein geringer, Zeit verplempern nicht mehr Bestandteil.
Was Largo also wenig bis gar nicht in seinen Zusammenhängen sieht, obwohl er selbst die Phänomene benennt ist, welche Folgen es hat, dass Erwerbstätigkeit nicht einfach ein Engagement unter anderen, sondern normativ besetzt ist. Sie gilt als herausragende Leistung, die schon lange für Männer den entscheidenen Beitrag zum Gemeinwohl definiert (Erwerbstätigkeit als ethische Verpflichtung) und aufgrund der traditionalen Deutung des Geschlechterverhältnisses Frauen ermöglichte, sich dem nicht verpflichtet fühlen zu müssen, dafür umso mehr dem Haushalt. Das war ein Schonraum unter traditionalen Bedingungen, der sich glücklicherweise aufgelöst hat, aber so, dass der Schonraum in keine neue Form transformiert wurde. Erwerbstätigkeit regiert heute unser Leben stärker denn je. Dass dies sich auf die Beziehungsdynamiken in Familien auswirkt, die Primärerfahrungen für Kinder darstellen, ist nicht verwunderlich. Dass es sich auch auf die Eltern auswirkt – wie Largo zuvor beschrieben hat – ist ebenso wenig verwunderlich, doch zieht er daraus keine Schlüsse. Die Relativierung von Erwerbstätigkeit, die Öffnung des Lebens für die Breite der Erfahrungen, die dazu gehören, wäre nötig, wenn es anders werden soll. Das geht nur über ein Bedingungsloses Grundeinkommen, als Voraussetzung dafür und zugleich Folge davon, den Vorrang von Erwerbstätigkeit hinter sich zu lassen.
Frühere Beiträge von uns zu Ausführungen Largos finden Sie hier.
Sascha Liebermann