In den letzten Wochen habe ich mehrere Beiträge dazu verfasst („Die Debatte um das Betreuungsgeld als Symptom“, „Eltern als Störung“, „Familienvergessen – auch in der Schweiz ein Phänomen“), welche Vorstellungen von Familie die öffentliche Debatte prägen und welche Konsequenzen damit für das Gemeinwesen verbunden sind. Grund dafür war unter anderem das Phänomen, dass wir es mit einer in sich gegenläufigen Entwicklung in der Diskussion über Familie zu tun haben. Auf der einen Seite wird Erwerbstätigkeit von Eltern mehr denn je gewünscht, durch das Elterngeld auch prämiert, während Eltern, die sich dafür entscheiden zuhause zu bleiben, nicht nur Nachteile in Kauf nehmen (z.B. für die Rente). Öffentlich gelten sie als hinterwäldlerisch, traditional, rückwärtsgewandt, emanzipationsvergessen usw. Es gilt als selbstverständlich, nicht länger als unbedingt nötig, auf die Rückkehr in den Beruf zu verzichten. Das ist auch an den gewünschten Betreuungszeiten in Kindertagesstätten und -gärten abzulesen. Auf der anderen Seite wird aber nach wie vor Familie hochgehalten, ihre Bedeutung betont und ihre Förderung als wichtige Aufgabe herausgestellt. Dieses Bekenntnis zu Familie bleibt aber leer, wenn zugleich die Vorrangstellung von Erwerbstätigkeit verstärkt wird (da ist auch UNICEF keine Ausnahme). Denn was anderes als eine Verstärkung dieses Vorrangs ist es, wenn Eltern früher denn je zurück in Erwerbstätigkeit drängen?
Auffällig ist an der Diskussion über Kindertagesstätten, dass es in der Regel nur um die direkten Auswirkungen auf Kinder geht ( „Wie stressig sind Krippen für die Kinder?“, „Wo bleiben die guten Krippen?“). Von den Folgen, die die Ausweitung der Betreuung auf das Familienleben, die Vorstellungen von Familie und das Verhältnis von Eltern zu ihren Kindern hat, wird wenig bis gar nicht gesprochen.
Richtet man seinen Blick auf Famlie als Ganzes, fällt ein anderer Mangel besonders auf: der an frei verfügbarer, offen gestaltbarer Zeit, die in der Familie verbracht wird. Grund für diesen Mangel ist nicht selten die große Identifizierung mit beruflichem Erfolg und das Empfinden, nur durch Erwerbstätigkeit Anerkennung zu erfahren – das gilt heute für Väter wie Mütter. Dem entspricht die Politik der letzten Jahre, die dem Wandel Ausdruck verliehen hat, der schon länger vor sich geht und dessen Zeichen Familienvergessenheit ist. Was heißt das konkret? Schon das Hineinfinden in die Elternposition, in die Aufgabe der Elternschaft, vor wie nach der Geburt eines Kindes ist durch die Fixierung auf Erwerbstätigkeit erschwert. Denn, um sich auf die Eigendynamik von Familie einlassen zu können, brauch es auch Zeit, Offenheit für das Neue und Unbekannte. Eltern zu sein ist mit Umbrüchen und Verunsicherungen verbunden – der Volksmund weiß das. Für Kinder verantwortlich zu sein, so könnte man zuspitzen, ist keine Routine, sondern dauerhafte Krise. Sie zuzulassen und durchzustehen erfordert Aufmerksamkeit – und zwar eine, die möglichst wenig abgelenkt ist durch anderes. Je mehr Ablenkung durch berufliches Engagement, desto schwerer ist es, sich einzulassen. Die Familienpolitik und Sozialpolitik hat hier keine Verbesserungen, sie hat Verschärfungen herbeigeführt. Was allerorten beklagt wird, das Fehlen von Betreuungsplätzen für Kinder, ist keine Lösung für diese Herausforderung. Erfolgt dieser Ausbau ohne zugleich die Möglichkeiten dafür zu verbessern, für die Kinder zuhause zu bleiben, wird der Vorrang von Erwerbstätigkeit weiter verstärkt. In Abwandlung eines sozialwissenschaftlich gebräuchlichen Schlagworts könnte man von der Beschäftigungsfalle sprechen.
Alle Parteien unterstützen diese Entwicklung, manche stärker – wie die Grünen, die Linke und die SPD – auch die Befürworter des Betreuungsgeldes, bedenkt man den lächerlichen Betrag, um den es geht. Politiker halten es für progressiv nach kurzer Auszeit für den gerade geborenen Nachwuchs wieder in ihr Amt zurückzukehren (z.B. hier und hier), sie leben noch vor, wie wunderbar Familie und Beruf vereinbar sein sollen – und kehren nach einer Auszeit von wenigen Monaten in ihr Amt zurück. Dabei geht es in der Frage, wie wollen wir Familien unterstützen, um eine von großer Bedeutung mit langfristigen Folgen.
Nicht nur hat dies Auswirkungen in der Gegenwart, sie reichen weit in die Zukunft, sofern diese Entwicklung anhält. Anlässlich eines Vortrags zum Grundeinkommen kam ich kürzlich darauf zu sprechen, wie sich diese Entwicklung wohl auf die Vorstellungen von Familie bei Kindern auswirken wird, und zwar nicht nur bei denjenigen, die früh betreut werden (also unter 3 Jahren), sondern auf alle. Denn Ganztagsbetreuung im Kindergarten nimmt ebenfalls zu, Ganztagsschule wird als wichtiges Ziel gehandelt. Nicht nur verwaisen Nachbarschaften tagsüber, wenn Kinder fern ihres unmittelbaren Lebensumfeldes betreut werden. Die Betreuung erschwert es auch, dass Kinder sich ihren nachbarschaftlichen Lebensraum geduldig erschließen können. Solche Erfahrungen freien, unbeaufsichtigten Herumtollens und Erkundens der unmittelbaren Umgebung ermöglichen zugleich Erfahrungen von Selbständigkeit. Dafür bräuchte es keine Frühförderprogramme – aber den Freiraum und Eltern, die ihn wahrnehmen. Solche Erfahrungen finden nicht in einem institutionell abgesteckten Rahmen statt (wie bei Kindertagesstätten und Ganztagsschulen unter ständiger Beaufsichtigung). Noch weiter reichen allerdings die Folgen für die Vorstellung von Familie. Wenn Kinder, so meine These im Vortrag, mehr Zeit in Einrichtungen verbringen als zuhause, wenn sie also erheblich mehr Zeit mit Betreuungspersonen verbringen als mit den eigenen Eltern (was nach Lebensphasen sehr unterschiedliche Bedeutung hat), dann kommt das einer Entwertung von Familie gleich. Wir fördern also eine Vorstellung von Familie, in der für diese kein Platz mehr ist. Sie ist bloßes Anhängsel von Erwerbstätigkeit, gehört in die „Freizeit“. Wenn Kinder diese Entwertungserfahrungen machen, wie werden sie zu Familie stehen? Wenn sich die Eltern die Zeit nicht mehr nehmen, nehmen wollen oder nehmen können, die für ein lebendiges Familienleben notwendig ist, wie wird Familie der Zukunft dann aussehen?
Eine Zuhörerin meldete sich ob meiner These verärgert bzw. empört zu Wort. Sie sei genau so aufgewachsen, wie ich es beschrieben habe und wolle es mit ihren Kindern genauso machen. Dann müsste es weiterhin Krippen geben usw. Ob das nicht durch ein Grundeinkommen gefährdet sei? Zum einen habe das eine mit dem anderen nichts zu tun, es hänge schlicht vom politischen Willen ab – entgegnete ich. Zum anderen aber wäre es fahrlässig für ein Gemeinwesen, diese Entwertung von Familie zu betreiben. Es gehe nicht um Diffamierung und Anklage, sondern um die Vorstellung von Familie, die wir als Gemeinwesen haben und fördern wollen. Gibt man ihr keinen Raum und schützt sie in ihrer Eigendynamik nicht, dann kann Familie nicht das sein, was sie im innersten auszeichnet. Wir müssen uns offen fragen, was die Folgen dieses Vorrangs von Erwerbstätigkeit sind. Es hat etwas Heuchlerisches, sich auf der einen Seite über mangelnde Solidarität, fehlenden gesellschaftlichen Zusammenhalt, den Zerfall des Gemeinwesens usw. zu beklagen, wenn auf der anderen Seite nichts dafür getan wird, die Orte zu stärken, an denen Gemeinschaftsleben bedingungslos praktiziert werden kann: Familie – und bürgerschaftliches Gemeinwesen als Zwecke um ihrer selbst willen.
Das Bedingungslose Grundeinkommen würde zwar Eltern nicht mehr in eine bestimmte Richtung dirigieren, trotzdem enthöbe uns das nicht der Frage, welches Handeln wir ausdrücklich fördern wollen. Immerhin böte ein ausreichend hohes BGE auch die Möglichkeit, Betreuungsplätze privat zu organisieren, sofern es keine öffentlichen Betreuungsplätze gäbe. Diese Diskussion zeigte sehr deutlich, dass mit einem BGE keineswegs alle Fragen – was auch kaum ein seriöser Befürworter behauptet – beantwortet wären. Es wirft andere Fragen auf und stellt unsere heutigen Antworten in Frage z.B. die nach dem Ausbau von Ganztagsbetreuung. Das scheint mir eine mächtige Seite des BGE zu sein, Selbstverständliches auf einfache Weise zu hinterfragen und dadurch andere, gangbare Wege aufscheinen zu lassen, die wir heute für verschlossen halten. Dadurch verunsichert der Vorschlag eines BGE erheblich, bringt Vertrautes ins Wanken – und lässt dadurch Neues oder noch nicht Wahrgenommenes aufscheinen.
Sascha Liebermann
Nachtrag 4. Juni: Wenig überraschend hat die gestrige Sendung bei Günther Jauch zu diesem Thema (auch auf Youtube verfügbar) die Fragen nicht aufgegriffen, die aufgegriffen werden müssten. Auch Kommentare zur Sendung erweisen sich da als wenig besser, z.B. in der Süddeutschen Zeitung oder der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.