Die Verklärung des alten Sozialstaats oder verwunderliche Allianzen

Kürzlich haben wir auf die Petition von Inge Hannemann an den Deutschen Bundestag hingewiesen, die die Abschaffung der Sanktionen im Sozialgesetzbuch vorschlägt. Die Petition hat Unterstützung von verschiedener Seite gefunden und ist nicht die erste ihrer Art. Dass von ihr nicht allzuviel zu erwarten ist, zeigen die Erfahrungen aber auch der unverbindliche Charakter dieses Instruments. Verwunderlich, auch bezeichnend, sind die Allianzen, die sich im Gefolge dessen gebildet haben. Einige derer, die sich vehement gegen ein Bedingungsloses Grundeinkommen aussprechen, unterstützen die Petition bzw. ihr Ziel, z.B. die Nachdenkseiten, Friederike Spiecker, Christoph Butterwegge u.a. Wie geht das zusammen? Kann es ein erwerbszentriertes Sozialsystem geben, wie das heutige, das ohne Sanktionen auskommt? Ein Blick auf die Gesetze, um die es geht, und deren innere Logik lehrt: Nein.

Schon im Bundessozialhilfegesetz, in dem die Sozialhilfe geregelt war, bevor das Sozialgesetzbuch eingeführt wurde, waren Leistungskürzungen vorgesehen:

„§ 25
(1) Wer sich weigert, zumutbare Arbeit zu leisten oder zumutbaren Maßnahmen nach den §§ 19 bis 20 nachzukommen, hat keinen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt. Die Hilfe ist in einer ersten Stufe um mindestens 25 vom Hundert des maßgebenden Regelsatzes zu kürzen. Der Hilfeempfänger ist vorher entsprechend zu belehren.“

Der nachstehende Paragraph aus dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) entspricht dem entsprechenden aus dem Bundessozialhilfegesetz von früher:

„§ 1 SGB XII Aufgabe der Sozialhilfe

Aufgabe der Sozialhilfe ist es, den Leistungsberechtigten die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht. Die Leistung soll sie so weit wie möglich befähigen, unabhängig von ihr zu leben; darauf haben auch die Leistungsberechtigten nach ihren Kräften hinzuarbeiten. Zur Erreichung dieser Ziele haben die Leistungsberechtigten und die Träger der Sozialhilfe im Rahmen ihrer Rechte und Pflichten zusammenzuwirken.“

Ein Sozialstaat, der nur bedarfsgeprüft Leistungen vergibt, Leistungen, die mit bestimmten Bedingungen verbunden sind, die der Leistungsbezieher erfüllen muss, muss auch Sanktionsmöglichkeiten vorsehen. Das hat seinen Grund in der Logik der Sache. Würden diese bedarfsgeprüften Leistungen vergeben, ohne Sanktionen einsetzen zu können, dann hätte man beinahe schon ein BGE. Bedarfsprüfung bzw. Ansprüche erwerben zu müssen und Sanktionsmöglichkeiten vorzuhalten sind zwei Seiten einer Medaille. Deswegen wird der Bedarf auch stets überprüft. Entsprechend findet sich auch in allen Staaten Europas, die solche Leistungen vorsehen, dieser Zusammenhang entsprechend ausgestaltet.

Man kann sich also zurecht darüber wundern, wie manche BGE-Kritiker mit großer Verve die Abschaffung der Sanktionen im Sozialgesetzbuch fordern, ohne sich für Leistungen auszusprechen, die vom Erwerbsprinzip unabhängig sind. Zwar kann zurecht von einer Verschärfung in der Sozialgesetzgebung in den letzten zehn Jahren gesprochen werden, doch Verschärfung heißt, dasselbe Prinzip, das vorher galt, wurde beibehalten. Wer indes mehr Freiräume für Selbstbestimmung, wer mehr Pluralität ermöglichen, wer die stigmatisierenden Folgen des heutigen Sozialstaats aufheben will – der muss eine Alternative benennen, die aus der Erwerbszentrierung herausführt. Da führt kein Weg an einem BGE vorbei. Wer hingegen glaubt oder gar suggeriert, mit einer deutlichen Erhöhung der Regelsätze im heutigen System sei schon viel erreicht, der irrt. Vielleicht will er auch einfach die Erwerbszentrierung nicht aufgeben und zieht eine „Arbeitsgesellschaft“ einer Solidargemeinschaft von Bürgern vor.

Bedarfsgeprüfte Leistungen, die es auch geben müsste, nachdem ein BGE eingeführt wurde, änderten durch das BGE ihren Charakter. Denn im Zentrum des Sozialstaats stünde dann nicht mehr der Bedürftige, der dem Erwerbsideal nicht folgen kann, dort stünde der Einzelne in seiner Souveränität. Das ist ein Unterschied ums Ganze.

Sascha Liebermann