„…denn Arbeitslosigkeit ist ein großes Gift für die Menschen individuell und für den gesellschaftlichen Zusammenhalt…“…

…eine doch erstaunlich affirmative und undifferenzierte Einschätzung, die Achim Truger, Mitglied des deutschen Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, auf Kontrast (Österreich) abgegeben hat. Hier die ganze Passage:

„DIE ARBEITSLOSIGKEIT IST DURCH DIE CORONA-KRISE STARK ANGESTIEGEN, ABER AUCH DAVOR GAB ES SCHON EINE HOHE SOCKELARBEITSLOSIGKEIT IN VIELEN STAATEN DER EU. AUCH IN ÖSTERREICH UND DEUTSCHLAND. IST VOLLBESCHÄFTIGUNG ÜBERHAUPT NOCH EINE PERSPEKTIVE?
Truger: Vollbeschäftigung muss eine Perspektive sein, denn Arbeitslosigkeit ist ein großes Gift für die Menschen individuell und für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Insofern sollte die Wirtschafts- und Finanzpolitik alles tun, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Das beginnt bei einer konjunkturgerechten Makropolitik mit starken öffentlichen Investitionen, die sich nicht an willkürlichen Kredit- oder Schuldengrenzen, sondern am nachhaltigen gesellschaftlichen Wohlergehen orientiert.
Es umfasst dann natürlich viele weitere Bereiche wie die Bildungs- und Forschungspolitik, sowie die Industrie-, Regional- und Strukturpolitik. Von zentraler Bedeutung ist auch eine gezielte Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik mit starken Tarifparteien und starkem Sozialstaat.“

Die Folgen von Arbeits- besser Erwerbslosigkeit fallen ja nicht vom Himmel, sondern sind Resultat der normativen Stellung, die Erwerbstätigkeit inne hat und die sich entsprechend in der Ausgestaltung des Sozialstaats niederschlägt. Nur dieser normativen Stellung wegen hat sie die Folgen, die sie hat, nur deswegen führt sie zu einer strukturellen Stigmatisierung all derer, die nicht erwerbstätig sind, ganz gleich aus welchen Gründen. Die Sanktionsbewehrung sozialstaatlicher Leistungen ist Ausdruck dieser normativen Vorrangstellung. Es ist also nicht so simpel, wie Truger hier konstatiert.

Der „gesellschaftliche Zusammenhalt“ wird gerade nicht durch Erwerbstätigkeit gestiftet, sondern durch die politische Vergemeinschaftung der Bürger, denn nur im Gemeinwesen gilt der Bürger etwas um seiner selbst willen und um des Gemeinwesens willen. Nirgendwo ist der Einzelne austauschbarer als in Erwerbsverhältnissen, das zeichnet gerade ihren modernen Charakter aus, dass es nur um Aufgaben geht, die bewältigt werden müssen. Was derjenige darüber hinaus ist, an Interessen oder Vorlieben hat, darf keine Rolle spielen. Das ist der Unterschied zur Leibeigenschaft.

Wer diese Wirkung von Erwerbslosigkeit nicht haben will, muss von der Erwerbszentrierung Abschied nehmen. Davon ist Truger offenbar weit entfernt und ist damit als Sachverständigenratsmitglied in guter Gesellschaft.

Sascha Liebermann