„…sie dazu bringen, ihr Potential auch leben zu können…“ statt sie mit einem Taschengeld abzuspeisen…

…das ist der weitere Zusammenhang des Zitats aus Gabor Steingarts Morning Briefing mit dem Titel „Wege zur Selbstermächtigung“ aus dem Jahr 2019. Im Gespräch mit Svenja Flaßpöhler, Chefredakteurin des Philosophie Magazins, ging es um Gerechtigkeit, hieraus stammt die zuletzt von mir unter Vorbehalt kommentierte Äußerung, ein BGE infantilisiere die Menschen. Sie hat es tatsächlich so gesagt und noch mehr (etwa ab Minute 10).

Gleich zu Beginn der entsprechenden Passage spricht sich Flaßpöhler gegen „Alimentierung“, „Infantilisierung“ und „Pampern“ aus, als werde der Einzelne durch staatliche Unterstützung davon abgehalten, sich zu fragen, wohin er mit seinem Leben wolle. Zu diesem Schluss kann man nur gelangen, wenn man der Auffassung ist, Einkommenssicherheit – darauf bezieht sich Alimentierung – behindere Leistung. Wie kommt sie darauf? Von einem „Pampern“ zu sprechen reiht sich in eine Tradition der Kritik am „Nanny State“ ein, in der der Staat dafür verantwortlich gemacht wird, dass die Bürger nicht mehr Eigeninitiative an den Tag legen. Die ehemals sozialistischen Staaten bieten genügend Anschauungsunterricht, weshalb sich Eigeninitiative dort nur ungenügend entfalten konnte, es lag nicht an der mangelnden „Befähigung“ und auch nicht an der Alimentierung.

Dass Flaßpöhler an keiner Stelle deutlich macht, dass der heutige Sozialstaat gerade nicht „pampert“, sondern auf der Basis einer Erwerbsnorm mit entsprechenden Sanktionsinstrumenten die Leistungsbezieher auf den rechten Weg bringen will, ist angesichts ihrer Kritik ziemlich erstaunlich. Gerade dies behindert eine Selbstentfaltung, die sich noch mit anderen Aufgaben verbindet als der Erwerbstätigkeit. Sie ignoriert die Gründe dafür, weshalb jemand über längere Zeit oder gar über die Lebensspanne auf diese Leistungen angewiesen sein kann. Hier gilt es den Blick auf dessen Lebensgeschichte zu richten, um zu erkennen, welche Möglichkeiten jemand hat. Angesichts dessen erweist sich das von Steingart an dieser Stelle eingeführte Schlagwort vom lebenslangen Lernen als realitätsblind. Das überrascht um so mehr und steht auch im Kontrast dazu, dass Flaßpöhler keineswegs den Staat für überflüssig hält (hierzu zieht sie John Rawls heran).

In der Hinwendung zum BGE wird diese Haltung besonders deutlich, denn tatsächlich sieht Flaßpöhler darin eine Infantilisierung, es sei ein „Taschengeld“ – eine steile Behauptung angesichts der Beträge, die in diesem Zusammenhang diskutiert werden. Sie erläutert nicht, worin die Infantilisierung bestehe. Stattdessen jedoch sollten „Männer und Frauen“ „in die Potenz“ gebracht werden, sie sollen dazu gebracht werden „ihr Potential auch leben zu können“. Was meint sie damit? Wer soll sie dorthin bringen? Ist genau dies nicht paternalistisch, wenn sie glaubt, die Aufgabe des Gemeinwesens sei es, jemanden zu etwas zu bringen? Sie hätte, um Missverständnisse zu vermeiden, von Ermöglichung sprechen können, dann müssen eben Möglichkeiten geschaffen werden, damit jemand sich entfalten kann. Bildungsprozesse gestalten sich entlang der Ermöglichungen, für die Eltern verantwortlich sind, später auch das Bildungswesen. Doch das Gelingen hängt von einer lebendigen Beziehung ab, in der die Kinder den Eltern vorbehaltlos vertrauen, weil sie Anerkennung und Wertschätzung erfahren – das gilt für das Bildungswesen ebenso.

Menschen sollen sich in ihrer „Hilflosigkeit“ nicht einrichten, das ist ihr wichtig, doch wie will sie das verhindern, wenn sie es denn wollen? So sehr Flaßpöhler den „Nanny State“ ablehnt, so sehr vertritt sie ihn zugleich, wenn sie Menschen zu etwas bringen will. Während ein BGE lediglich Handlungsmöglichkeiten erweitert und signalisiert, dass das Gemeinwesen, weil es eine solche Leistung bereitstellt, genau dies will, dass nämlich der Einzelne diese Frage für sich beantworten kann, ist es doch vielmehr Flaßpöhlers Haltung, die von einem Erziehungswillen zeugt. Insofern kommt ihre Kritik am BGE einer Verkehrung der Verhältnisse gleich.

Im letzten Teil verweist sie noch auf den Stellenwert von Erwerbsarbeit zur Einbindung des Einzelnen in die Gesellschaft. Doch hier findet gerade keine Einbindung der Person um ihrer selbst willen statt, sie ist lediglich aufgabenbezogen relevant und austauschbar. Das jedoch gilt für Bürger gerade nicht. Wer diesbezüglich eine Veränderung erreichen will, müsste gerade dies herausheben, dass nur die Vorbehaltslosigkeit des Bürgerstatus die Person um ihrer selbst willen und um des Gemeinwesens willen einbindet.

Sascha Liebermann