„Die Produktivität mancher Bereiche können wir also gar nicht messen“, sagt Mariana Mazzucato…

…in einem Interview auf Zeit Online. Was aber folgt daraus?

Sie scheint danach zu streben, eine geeignetere Form des Messens bzw. andere Kritierien dafür zu entwickeln, die dasjenige, was heute nicht erfasst wird, zu erfassen erlauben. Es geht in den folgenden hier kommentierten Passagen um die beschränkte Aussagekraft des Bruttoinlandsprodukts:

„ZEIT ONLINE: Wieso sollten sich solche verlagerten Effekte nicht mit den neoliberalen Messmethoden erfassen lassen? Wenn irgendwo Wertschöpfung stattfindet, fällt das schon auf.

Mazzucato: Nur wenn die Wertschöpfung sich verkaufen lässt. Im Bruttoinlandsprodukt zum Beispiel finden Sie nur jene Produkte und Dienstleistungen, die einen Preis haben. Die Produktivität mancher Bereiche können wir also gar nicht messen, zum Beispiel die unseres kostenlosen Bildungssystems. Sie können zwar angeben, wie viel Geld da reinfließt, also was Lehrer kosten und Schulgebäude. Aber keiner weiß, welchen Preis diese Leistung erzielen würde, würde man sie verkaufen. Das Gleiche gilt für das Gesundheitssystem. Hier brauchen wir neue Maßstäbe, wie wir solche Wertschöpfung quantitativ erfassen können. Nehmen Sie die sogenannte Care-Arbeit, Feministinnen sprechen darüber schon lange: Wenn Sie Ihr Kindermädchen heiraten, sinkt das Bruttoinlandsprodukt! Denn plötzlich ist eine Dienstleistung, für die bisher bezahlt wurde, kostenlos – und damit angeblich nichts mehr wert. Das ergibt keinen Sinn.“

Diese Kritik ist nicht neu und begleitet das BIP schon lange, sie liegt darin begründet, wie methodisch versucht wird, Lebenszusammenhänge abzubilden. Aber weshalb neue Messkriterien entwickeln, was würden sie verändern, als nur den Einsatz dieser Methodik weiter auszudehnen? Würde sie denn daran etwas ändern, dasjenige nicht erfassen zu können, was sich mit solchen Messkriterien nicht abbilden lässt? Mir scheint das mehr als unplausibel, denn die Zeitverwendungsstudien des Statistischen Bundesamts (siehe hier und hier), die für Deutschland das Volumen unbezahlter Arbeit in Jahresstunden zu ermitteln versuchen, lassen schon erkennen, welche methodischen Probleme damit einhergehen und sogar ausdrücklich benannt werden (siehe hier). Doch auch Mazzucatos Vorschlag entgeht dem methodischen Problem bzw. der Grenze dieser Messverfahren nicht, er würde nur dazu führen, in dieser Form Nicht-Messbares so verwandeln zu müssen, damit es gemessen werden kann. In einem Beitrag zu den Zweitverwendungsstudien „Entwicklung der unbezahlten Arbeit privater Haushalte“ wird deutlich, vor welchen Schwierigkeiten die Erfassung „unbezahlter Arbeit“ stehen. Darin heißt es (S. 37 f.):

„Zur Abgrenzung der unbezahlten Arbeit von persönlichen Tätigkeiten und Freizeitaktivitäten wird das sogenannte „Dritt-Personen-Kriterium“ herangezogen. Danach zählen alle Aktivitäten, die auch von einer anderen Person gegen Bezahlung übernommen werden können, zur unbezahlten Arbeit. Dieses Vorgehen ist international üblich und entspricht den Empfehlungen Eurostats, des Statistischen Amtes der EU (Europäische Kommission, 2003, hier: Seite 17).“

Diese Abgrenzung ist nachvollziehbar und macht es dann auch möglich, die Wertschöpfung in Preisen zu erfassen, die mit diesen Tätigkeiten einhergeht (fiktiver Preis für eine Leistung, die nicht als Dienstleistung angeboten wird). Erfasst wird die Qualität dieser Leistung damit aber nur sehr oberflächlich, weil die Besonderheit des Beziehungsgefüges nicht erfasst werden kann. Um es anders auszudrücken, es ist nicht dasselbe, ob Eltern die Fürsorge für ihre Kinder wahrnehmen und damit das Familienleben seine Eigenheiten erst entfalten kann oder ob Dienstleister diese Fürsorgen als Betreuungsangebote wahrnehmen. Noch deutlicher wird das hier:

„Um den ganzen Umfang der Kinderbetreuung darzustellen, müssten im Grunde zusätzlich Bereitschaftszeiten betrachtet werden (Schwarz, 1996, hier: Seite 104 ff.), die aber in der Zeitbudgeterhebung nicht erfasst sind. Zudem sind viele Gespräche zwischen den Haushaltsmitgliedern, die auch unter dem Aspekt Beziehungsarbeit subsummiert werden können, für das Zusammenleben und die Haushaltsorganisation notwendig (Schäfer/ Schwarz, 1996, hier: Seite 28 ff.). Mit Ausnahme von Gesprächen mit Kindern als Teil der Kinderbetreuung ist die reine Beziehungsarbeit weder erfassbar noch entspricht sie dem Dritt-Personen-Kriterium, da eine Verlagerung auf andere Personen schwer nachvollziehbar ist. Ebenfalls nicht zur unbezahlten Arbeit zählen Bildungsaktivitäten, auch wenn diese unter ökonomischen Erwägungen von großem Interesse sind. Allerdings lassen sie sich nach dem Dritt-Personen-Kriterium nicht der unbezahlten Arbeit zurechnen. Die Bedeutung der in Haushalten und von Haushaltsmitgliedern geleisteten Tätigkeiten geht somit auch unter dem Blickwinkel einer ökonomischen Betrachtung über die hier dargestellte unbezahlte Arbeit im Satellitensystem Haushaltsproduktion hinaus.“

Was mit „unbezahlter Arbeit“ erfasst wird, ist also nur ein bestimmter Ausschnitt dieser Realität, deren Umfang erheblich höher wäre, aber mit diesen Instrumenten nicht erfasst werden kann, da er künstlich abgegrenzt werden müsste. Mazzucatos Vorschlag, diese Leistungen besser zu erfassen, stößt auf methodische Grenzen. Im Interview heißt es an einer weiteren Stelle:

„ZEIT ONLINE: Auf der einen Seite fordern Sie, dass echte Wertschöpfung im Bruttoinlandsprodukt besser abgebildet werden soll. Auf der anderen Seite wollen Sie, dass Wertschöpfung eben nicht mehr mit dem Preis gleichgesetzt wird. Ist das nicht ein Widerspruch? Wollen Sie mehr Kommodifizierung – oder weniger?

Mazzucato: Das ist kein Widerspruch, wir brauchen beides gleichzeitig. Wir müssen Leistungen zumindest virtuell bepreisen, die wir bisher nicht bepreist haben, sei es unbezahlte Care-Arbeit oder das Bildungssystem. Sonst übersehen wir im Bruttoinlandsprodukt, wo tatsächlich die Wertschöpfung stattfindet. Gleichzeitig müssen wir das Gesamtbild im Auge behalten.“

Preise sagen jedoch nichts über die Bedeutung bestimmter Leistungen für ein Gemeinwesen, da die Preise von kulturellen Bewertungen bestimmter Tätigkeiten abhängen. Darüber hinaus bleibt unklar, wie man das „Gesamtbild im Auge behalten“ kann, ohne in die reduktionistische Preisbetrachtungsfalle zu treten. Will man also keine Kommodifizierung dieser Tätigkeiten herbeiführen, danach fragen die Zeitjournalisten ja auch, dann müssen sie ermöglicht werden, ohne von einer Preisbildung abhängig zu sein. Hier kommt das Bedingungslose Grundeinkommen ins Spiel. Für andere Fürsorgetätigkeiten im engeren Sinne würde wieder gelten, dass sie einen Preis erhalten müssen, wenn sie als Dienstleistung erbracht werden.

Sascha Liebermann